Die Mitternachtsrose
Mädchen halten. Vielleicht wird’s ja ganz lustig.«
» Ich hasse es « , zischte Indira mit Tränen in den Augen. » In meiner Familie kümmert es niemanden, dass ich weg bin. Pa war sogar zu beschäftigt, um mir aufWiedersehen zu sagen. Sie wollten mich los sein. «
» Du weißt, dass das nicht stimmt. Sie lieben dich alle. Und dein Vater möchte stolz auf dich sein. « Mir kam ein Gedanke. » Du hast doch genug Geld, oder? «
Sie nickte.
» Gut. « Ich verschoss meine letzte Munition. » Wenn es uns nicht gefällt, können wir immer noch weglaufen und mit dem Schiff nach Indien zurückfahren. Wie findest du das? «
Ihre Augen begannen zu leuchten.
» Ja « , sagte sie, stand endlich auf und wischte den hellen Kiesstaub von ihrem Rock. » Dann wären sie richtig traurig, was? «
» Ja. Bereit? « , fragte ich.
» Ja. «
Und so marschierten wir Hand in Hand die Stufen hinauf und ins Schulgebäude.
Miss Reid hatte uns gewarnt, dass die anderen Schülerinnen uns angaffen würden. Damals waren indische Mädchen in englischen Internaten noch eine Seltenheit. In der ersten Woche versuchten wir, uns an die Blicke und das Getuschel, die unsere Anwesenheit verursachte, sowie an das Gekicher, das wir hörten, wenn man uns im Speisesaal Hühnchen statt Rindfleisch servierte, zu gewöhnen. Als die anderen Mädchen uns die kalte Schulter zeigten, klammerten wir uns noch enger aneinander. Nachts kroch Indira in dem zugigen Schlafsaal mit den zehn Betten zu mir unter die Decke, damit wir uns gegenseitig wärmen und trösten konnten.
» Ich will nach Hause « , schluchzte sie neben mir. » Bitte, Anni, lass uns weglaufen, wie du’s gesagt hast. «
» Bald, das verspreche ich dir, aber wir müssen wenigstens so lange bleiben, bis deine Eltern glauben, dass du es tatsächlich versucht hast. «
Nicht nur Indira fühlte sich elend. Auch ich fand unser neues Leben entsetzlich. Mir graute vor der Kälte des englischen Morgens, die mir in die Knochen kroch. Das fade englische Essen, das ganz ohne Gewürze in Spülwasser gekocht zu sein schien, verursachte mir Übelkeit. Und obwohl ich geglaubt hatte, die englische Sprache gut zu beherrschen, hatte ich Mühe, die Angestellten und Mädchen zu verstehen, die so schnell redeten und selbst mir bekannte Wörter so anders aussprachen. Wenn sie mich etwas fragten, blieb ich stumm und begriff erst später, was sie gemeint hatten. Die Spiele, die mit Holzschlägern auf schlammigen Feldern nach verwirrenden, bisweilen lächerlichen Regeln gespielt wurden, waren mir ein Rätsel. Da ich Ballspiele ohnehin nicht sonderlich mochte, hatte ich vor diesen Stunden die meiste Angst.
Aufgrund des unaufhörlichen englischen Regens roch alles feucht. Nachts hing in der Luft nicht der Duft von Räucherstäbchen wie im Palast von Koch Bihar, und über uns leuchtete lediglich eine nackte Glühbirne.
Nach den ersten beiden Wochen war es schließlich ich, die am liebsten weggelaufen wäre.
Doch dann betrat eines Morgens der Geschichtslehrer, der wegen eines Auslandsaufenthalts freigestellt gewesen war, unser eiskaltes Klassenzimmer. Er war jünger als die anderen Lehrer, die wir bis dahin gehabt hatten, und seine Haut nussbraun.
» Guten Morgen, Mädchen « , begrüßte er uns.
Wir standen auf und erwiderten artig: » Guten Morgen, Sir. «
» Ich hoffe, ihr hattet schöne Sommerferien. Meine waren sehr interessant. Ich habe meine Eltern in Indien besucht. «
Die anderen Mädchen wirkten gelangweilt, doch Indira und ich spitzten die Ohren.
» Wir scheinen zwei neue Schülerinnen aus Indien zu haben, eine davon eine Prinzessin. « Er sah Indira und mich an. » Wer von euch ist das? «
Plötzlich gab es Getuschel im Klassenzimmer, und alle Mädchen wandten sich uns zu. Indira hob schüchtern die Hand. » Ich, Sir. «
» Ihre Hoheit, die Prinzessin Indira von Koch Bihar. « Der Lehrer lächelte. » Ich habe Koch Bihar vor zwei Jahren besucht und den prächtigen Palast deiner Familie gesehen. «
Wieder aufgeregt-neugieriges Gemurmel.
» Sir. « Indira senkte den Blick.
» Vielleicht möchtest du uns irgendwann die Geschichte deiner Familie und wie ihr lebt erzählen, Indira. Ich glaube, das wäre für alle lehrreich. «
» Ja, Sir. «
» Und du? « , fragte er mich. » Wo wohnst du? «
» Ich lebe auch im Palast, Sir. «
» Verstehe. Und du bist keine Prinzessin? «
» Nein, Sir. «
» Anni ist meine beste Freundin « , erklärte Indira. » Und meine Gefährtin. «
» Sehr gut. Nun,
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