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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Schifffahrtsgesellschaften haben ja ihre Büros bei uns, und wenn Sie bei denen Ihre Passage kaufen, sorgen die bis zur Abreise für Ihre Unterkunft. Bestehen Sie nur darauf, dass man Ihnen das Zimmer vorher zeigt. Zuweilen sollen üble Zustände herrschen, und zwei so schmucke Damen wollen sich schließlich kein Ungeziefer zulegen. Dabei fällt mir ein …« Mit ausladender Geste zog er einen der Koffer unter sich hervor und entriegelte die Verschlüsse. Der Deckel sprang zurück und gab den Blick auf eine Reihe Tiegel und verkorkter Fläschchen frei. »Vielleicht benötigen die Damen ja noch das eine oder andere zur Pflege der Schönheit? Auch ein Präparat gegen Seekrankheit empfehle ich und natürlich Stecknadeln. Unentbehrlich für eine Bahnfahrt – behalten Sie stets ein paar davon im Mund, und falls ein Strolch versucht sich im Dunkel des Tunnels einen Kuss zu stehlen, kann er sein blaues Wunder erleben.« Strahlend hielt er Daphne die Nadeln hin. »Übrigens, mein Name ist Will Burnet, Handelsreisender in Arzneimitteln und Kosmetika.«
    Mildred sprang auf. Da der Zug gleich darauf einen Schwenk vollführte, wurde sie gegen eine Frau geschleudert und wäre gefallen, hätte ein Mann in Uniform sie nicht aufgefangen. »Wir setzen uns anderswohin«, beorderte sie Daphne, ohne sich bei der Frau zu entschuldigen oder bei dem Uniformierten zu bedanken. Aber anderswo gab es keine Handbreit Platz. Mildreds Gesicht war bleich. Als wüsste sie, dass Daphne es bemerkt hatte, rief sie: »Keine Sorge, Sperling, überlass das nur mir. Ich finde ein Schiff für uns und auch ein Quartier.«
    »Und Geld, Milly-Milly?«
    »Um Geld brauchst du dich nicht zu kümmern. Besorge ich nicht immer alles, was du brauchst?«
    Daphne stand ebenfalls auf und balancierte mühsam ihr Gewicht. »Ja, das tust du«, murmelte sie. Die Schwestern sahen einander an. Es war, als stünden sie allein im Waggon. So war es gewesen, solange Daphne denken konnte. Mildred war immer da, alle anderen waren bedeutungslos. Ich will ihr helfen, nahm Daphne sich vor, sie muss ja müde davon sein, die Last allein zu schleppen. Zugleich aber wusste sie, dass sie, linkisch, wie sie war, nicht würde helfen können, sondern dass Mildred wie immer alles alleine regeln musste.

    Als der Zug in Portsmouth hielt, als Mildred mit ihrer Fußspitze zum ersten Mal den Boden der Stadt berührte, hörte es zu regnen auf. Genau wie der riesenhafte Bahnhof, von dem sie in London aufgebrochen waren, war auch dieser kleinere von einer gläsernen Kuppel überdacht, und auf das Glas der Kuppel hörte Mildred Regen prasseln, als sie aus der Tür spähte. Sobald sie jedoch ihren Fuß aufsetzte, verstummte das Prasseln.
    Das ist gut, dachte Mildred und wunderte sich, weil der Gedanke so seltsam war. Sie war sicher, sie würde sich daran erinnern – an den Augenblick, in dem sie in Portsmouth aus dem Zug stieg, der Regen ein Ende nahm und sie bei sich dachte: Das ist gut. Gleich darauf drehte sie sich um und half Daphne aus dem Zug.
    Sie hatte nicht gewusst, was zu tun war. Die Behauptung des Lackaffen hatte ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen entzogen, doch mit einem Schlag schien ihre Sorge fortgewischt. Alles würde sich fügen, wie das Ende des Regens sich gefügt hatte. Die kleine Stadt, in die sie irrtümlich geraten waren, meinte es gut mit ihnen. Mildred hatte noch nie so gedacht, sie war nicht abergläubisch und verließ sich auf ihre Tatkraft. Jetzt aber dachte sie so. Schleppte ihr Gepäck durchs Gewühl aus der Bahnhofshalle, zerrte Daphne hinterher und setzte sich kurzerhand mit ihr auf ein Mäuerchen, um dort auf ihr Glück zu warten.
    Und dann roch sie es. Spürte es in dem Wind, der ihr um die Wangen pfiff, und hörte es in ihrem Rücken – obgleich aus dem Portal des Bahnhofs eine lärmende Menschenmasse quoll und dahinter das quirlige Treiben einer Einkaufsstraße herrschte. So, wie sie im Radau der Petticoat Lane das Klavier gehört hatte. Sie packte Daphnes Gelenk. »Weißt du, was das ist, Sperling?«
    Daphne schüttelte den Kopf.
    »Das Meer«, flüsterte Mildred und hörte sich mit Andacht zu. Dann erst drehten beide sich um.
    Das Meer war ein Stück weit von der Bucht eingeschlossen, die es wie in Armen hielt. Dahinter aber brach es heraus und nahm allen Raum ein, und hätten die Arme Hände gehabt, sie hätten es nicht halten können. Am Horizont erhob sich eine bucklige Landmasse, gewiss die Isle of Wight, auf der die Königin mit ihrer Familie

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