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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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die Schulter, warf die Beherrschung in den Wind und lachte.

Kapitel 3
    Unterwegs, November 1860
    S o schnell, so schnell, so schnell.
    Mehr als diese zwei Worte vermochte Daphne nicht zu denken. Sie reihte sie endlos aneinander. Nicht erst seit dem Morgen, sondern seit Tagen oder, um genau zu sein, seit jener Nacht, in der Mildred den Beschluss gefasst hatte: Wir gehen weg von hier. Unser Leben in Whitechapel ist zu Ende, und ein anderes fängt an.
    So schnell war alles gegangen, so schnell, so schnell. Immer fasste Mildred, ihre Milly-Milly, Beschlüsse für sie beide, und Daphne, der täppische Sperling, hüpfte hinterdrein. »Frag nicht«, hatte Mildred gesagt, als Daphne wissen wollte, woher das Geld kam. Geld für die Fahrt mit der Eisenbahn, Geld für neue Strümpfe und Umschlagtücher, denn, so erklärte Mildred, wer nicht genug Strümpfe bei sich hatte und keine warme Oberbekleidung, durfte nicht nach Australien reisen.
    Zehn Wochen, auch das hatte die Schwester in Erfahrung gebracht, sollte die Überfahrt auf dem Segler dauern. »Kannst du das glauben, Sperling, wir beide zehn Wochen lang auf hohen Wellen und dann zehn Wochen weit weg von Whitechapel?«
    Daphne wollte gern alles glauben, was Mildred erzählte, aber dass dieses Zauberland, wo statt Regen Gold vom Himmel tropfte, erreichbar war, blieb unglaublich. Australien nahm in ihrem Kopf kein Bild an. Es wäre mir leichtergefallen zu bleiben, durchfuhr es Daphne, so hart es hier ist, es ist nicht fremd. Gleich darauf schalt sie sich undankbar. Tat Mildred nicht alles, um ihr ein besseres Leben zu schenken? Und wenn Mildred sagte, dass in diesem Australien das bessere Leben auf sie wartete, hatte sie einen Grund, daran zu zweifeln?
    Es wird schon recht sein, Milly-Milly. Solange du und ich zusammenbleiben, wird es zu ertragen sein.
    Drei Tage nach dem Missgeschick mit den Navvies, das Mildred so schwergenommen hatte, war sie mit dem Fahrplan gekommen, dann mit Kleidern und einem Korb für Proviant. »Wir fahren am Montag in der Frühe. Den Eltern sagen wir nichts.«
    Nur flüchtig hatte Daphne widersprechen wollen, beteuern, dass das alles doch so arg nicht war, dass sie eben schnell zu Tränen neigte, aber die Navvies sich letztlich nicht mehr als einen Spaß gemacht hatten. Ihretwegen brauchte Mildred nicht ihr schwer verdientes Geld auszugeben, ihretwegen brauchten sie nicht von zu Hause fort. Mildred aber hatte davon geredet, fortzugehen, solange Daphne denken konnte, und sie hatte nie widersprochen, also tat sie es auch jetzt nicht.
    Vielleicht glaubte sie ja noch immer, es könne nicht Wirklichkeit werden, ein verträumtes Ding aus einem Londoner Hinterhaus könne nicht einfach ein Bündel schnüren, Brot und Käse in einen Korb stopfen und sich auf den Weg machen. Als sie auf dem Bahnhof Paddington ankamen, unter der gewaltigen Glaskuppel standen und auf das fauchende, in Dampf gehüllte Ungetüm starrten, war Daphne stehen geblieben, weil sie es nicht zu fassen vermochte. Mildred, die mit dem Gepäck voranstiefelte, hatte in ihrer Erregung nicht bemerkt, dass die Hand der Schwester ihr entglitten war, aber die Flut der Passagiere hatte Daphne mitgerissen. Hinter Mildred wurde sie in den schwarzen Kasten geschoben, bei dem es sich, wie ein Herr mit zwei Koffern ihr versicherte, um den Reisewagen der dritten Klasse handelte.
    So schnell, so schnell, so schnell.
    Es war, wie Mildred versprochen hatte. Sie saßen in einer Kutsche ohne Pferd, und draußen flog die Welt vorbei. Nur das Fenster fehlte, die spitzen Lippen und der Tee. Auch fuhren sie nicht nach Southampton. Bahnreisen dritter Klasse kosteten einen Penny pro Meile, und der Uniformierte, dem die Leute ihr Geld einhändigten und der dafür mit einer Zange Pappkärtchen von einer Rolle knipste, rechnete aus, dass Mildreds Münzen nur für zwei Billetts nach Portsmouth reichten. »Das ist uns Jacke wie Hose«, hatte Mildred verkündet. »Alfred, der Aalhändler, sagt, Segler nach Australien gibt’s von Portsmouth genau wie von Southampton.«
    Also saßen sie zwischen Koffern, Kisten und Körben auf dem Boden des Waggons und spürten die Welt, über die die Räder hinwegratterten, als kleine Stöße im Hinterteil. Trotz all der Menschenleiber war es kalt, und trotz der vielen Stimmen fühlte Daphne sich allein. Sie betrachtete ihre Finger. Am Zeigefinger war eine Brandblase, die sie sich an Stenton’s Bügeleisen zugezogen hatte, weil der Keller, in dem sie arbeitete, so schlecht beleuchtet

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