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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Räder, das Geschrei der Händler.
    »Lumpen, Altkleider, Eisen! Beste Ware, billig wie geschenkt!«
    »Aale, kauft Aale, piekfein eingelegt und so frisch, dass sie im Mündchen zappeln.«
    »Hühneraugen, Warzen, Liebesschmerzen – Lindale’s Fliedersirup hilft jedem Übel ab …«
    Den Augenblick, in dem alles durcheinanderströmte, machte Mildred sich zunutze. Blindlings streckte sie die Hand aus, langte dem Alten in die Manteltasche und umschloss in der Faust, was sie fand. Gleichzeitig tat sie einen mannhaften Biss in die Kartoffel. Ehe der Empörte aufschreien konnte, riss sie ihren Karren herum und stürmte durch die Menge davon.
    Zunge und Rachen brannten, während sie den Bissen hinunterwürgte. Am Ende der Straße steckte der Lampenanzünder die neu errichtete Gaslaterne an. Um ein Haar hätten die Räder von Mildreds Karren ihm die Leiter umgeworfen. Im letzten Moment riss sie ihr Wägelchen zur Seite, fing es, ehe es aufs Pflaster krachte, und entfloh in eine Seitengasse. Hierher drang kaum ein Abglanz des Lampenscheins, und das letzte Tageslicht verblich im Nu. Mildred hastete weiter. Stehen blieb sie erst in einem Hinterhof, als sie hinter sich keine Füße mehr trappeln und kein Rad mehr rollen hörte.
    Schwer atmend lehnte sie sich an die Mauer des Hauses und öffnete die verkrampfte Faust. Es war so dunkel, dass es ihr schwerfiel, die Münzen in ihrer Handfläche zu zählen. Die Läden würden schließen, und die arme Daphne, die sich vor jedem Schatten fürchtete, würde vor Angst mit einer Ohnmacht kämpfen. Zudem durfte Daphne nie erfahren, dass ihre Schwester einem armen Schlucker die Kröten aus der Tasche stahl. Ich tu’s doch für sie, begehrte etwas in Mildred auf. Von dem Hungerlohn, den Daphne als Büglerin in Stenton’s Kleiderfabrikation verdiente, ließ sich nichts sparen, und die Einnahmen aus dem Altkleiderhandel reichten im besten Fall für Miete, Brot und Gin, in dem ihr Vater sein elendes Dasein ertränkte. Wenn sie nach Australien wollten, ehe sie zu vertrocknet waren, um einem Hund einen Knochen zu entlocken, mussten aus anderen Quellen Mittel fließen.
    Während ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnten, starrte Mildred auf das Geld in ihrer Hand. Eine Halbkrone, vier Pennys und zwei Farthings, die sie in ihrem Versteck in den Beutel stopfen würde. Eines Tages würde der Beutel so prall sein, dass er wie eine Backkartoffel platzte, und dann brauchten sie und Daphne keinen Grafen mehr, sondern fänden selbst den Weg ins Paradies. Sich das Wort Australien vorzusprechen half immer, gegen Erschöpfung und Hunger wie gegen Zweifel und Gewissensnot.
    Hier im Hof war die beginnende Nacht erstaunlich still. Aber sie würde es nicht lange bleiben. Huren nutzten Durchgänge wie diesen, um Freier zu bedienen, Hehler wickelten Geschäfte ab, und Seeleute, die aus den Kaschemmen der Docks torkelten, leerten in Hauseingängen letzte Flaschen. Mildred schüttelte sich, ehe sie die Holme des Karrens aufhob und ihres Weges stapfte. Einmal würde sie ein Leben führen, in dem sie von alldem nichts mehr wusste. Keine Nation der Erde war so reich wie Großbritannien, und der größte Reichtum winkte in den Kolonien, wo nie Regen in Rinnsteine voll Abwasser tropfte und keine Kälte in Kleider kroch. Wer in diesem Dreckloch hocken blieb, war ein hoffnungsloser Verlierer, Mildred hingegen war entschlossen, ein Sieger zu sein.
    Auch in der krummen Gasse, in der kaum drei Menschen miteinander Platz gefunden hätten, gab es keine Laterne. Hinter blinden Scheiben hauste Volk, das sich Kerzen nicht leisten konnte, und von den Polizisten, die neuerdings jeder Bezirk bereitstellen musste, ließ sich keiner blicken. Erleichtert erkannte Mildred das Tor der Zufahrt, die auf die Goulston Street führte. Dort würde die Schwester warten, zwar verängstigt und verfroren, aber selig, sie zu sehen. Vielleicht würde Mildred zwei der kostbaren Pennys opfern und sich mit ihr im Horn of Plenty eine Lammpastete teilen.
    In der Zufahrt war es noch schwärzer als zuvor auf der Gasse. Mildreds Schritte hallten. Ins Tock, Tock der Absätze und ins schleifende Geräusch der Räder mischte sich ein Keuchen, gehetzter Atem, dann ein dunkles Lachen. Mildred ging schneller. Sie, die selbst im dunkelsten Winkel keine Angst kannte, vernahm in den Ohren das Rauschen ihres Blutes, ließ den Karren fallen und begann zu rennen. Um ihr Leben zu fürchten hatte sie sich abgewöhnt, doch die Furcht um Daphne ließ ihr Herz

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