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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Urlaub genoss. Das Meer jedoch dehnte und streckte sich viel weiter, als ein enges Sichtfeld fasste. Es war blauschwarz und tobte, bäumte sich schäumend und ging berstend nieder, obgleich es in der Ferne spiegelglatt und reglos wirkte.
    Dieses Meer, das sich gab, als hätte es kein Ende, würden sie überqueren müssen, ehe sie an Australiens Küste neues Land betraten, und dennoch war Mildred zumute, als wären sie schon angekommen. Als sie nach oben sah, riss die Wolkendecke auf, gab einen Flecken blasser Sonne frei, und Mildred, die an kein Zeichen oder Wunder glaubte, dachte noch einmal: Das ist gut.
    Sie zwang ihren Blick vom Meer fort und ließ ihn über das Gesicht der Stadt schweifen. Zur Rechten lag der Bahnhof, aus dessen Portal immer neue Wellen von Menschen schwappten – elegante Damen mit Kindern und Bediensteten, Scharen junger Männer in Uniformen, die sich Unsinn zubrüllten, und Gruppen von Leuten jeden Alters, die sich an ihr Gepäck klammerten, wie um die Heimat darin festzuhalten. Auswanderer. Dass sie in solchen Massen auf die Straße strömten, versetzte Mildred einen Stich.
    Sie sah die Straße entlang. Die Häuser waren hübsch, in hellen Farben verputzt und nicht höher als drei Stockwerke, schmalbrüstig eins ans andere geschmiegt. In den Erdgeschossen reihten sich Geschäfte, und davor tummelten sich Einkäufer, Straßenhändler, Kinder mit Kreiseln, Lieferanten mit Schubkarren, Pferdewagen, bettelnde Hunde. Ein Bild voll Farbe, trotz des trüben Tages, und der Lärm, der herüberdrang, erinnerte eher an einen Jahrmarkt als an die Ladenzeilen, die Mildred aus Whitechapel kannte.
    Als wäre ihr Blick eine Dame, die von Geschäft zu Geschäft flanierte, wanderte er die Straße hinunter, blieb hier an etwas hängen und prüfte dort ein Angebot, bis die ganze Pracht abrupt zum Ende kam und der Blick an ein Hindernis prallte. Dort, wo die Straße abbrach, ragte eine Ziegelmauer auf, erstreckte sich bis zum Gestade und ein Stück ins Meer hinein. Darüber hinaus lugten Dächer hoher Gebäude, und Geräusche kündeten von emsiger Arbeit – Hammerschläge, knarrende Winden, gebrüllte Befehle. Hinter der Mauer mussten die Docks liegen, die Werftanlagen der königlichen Marine.
    Mildred erschrak. In ihren Betrachtungen hatte sie die Schwester vergessen und sah erst jetzt, wie verloren sie auf dem Mäuerchen kauerte. Jäh zog sie sie an sich, spürte das Zittern ihrer Schultern und bemerkte, wie kalt es war. »Ist ja gut«, murmelte sie, zupfte Daphne das Schultertuch zurecht und knotete ihr eigenes auf, um es darüberzubreiten. »Bestimmt finden wir gleich jemanden, an den wir uns wenden können.«
    »Wen denn, Milly?«
    »Überlass das nur mir.« Wie ein Kind war Daphne. Mildred hob den Proviantkorb auf. »Hast du Hunger?«
    Da die Jüngere den Kopf schüttelte, nahm Mildred sich selbst, was im Korb verblieben war, einen schrumpeligen Apfel und den Kanten vom Brot. Flüchtig kam ihr der Gedanke, dass sie dies Letzte besser aufheben sollten, aber der salzige Geruch der Luft machte ihren Magen schwach. Sie biss mit Lust in den Apfel und schob die Hand in die Rocktasche, wo der Rest ihrer Barschaft klimperte. Zur Not musste sie ein paar Pennys für ein Nachtessen springen lassen, das war nicht das Ende der Welt. Beim nächsten Biss jedoch stellte sich die Hilfe ein, auf die sie gewartet hatte.
    »Gestatten die Damen, dass ich mich Ihnen zugeselle? Mir scheint, Sie sind fremd in unserer Stadt, womöglich käme Ihnen guter Rat gelegen?«
    »Und ob!«, entfuhr es Mildred. Vor ihnen stand ein Herr, der nach Art der Geschäftsleute Gehrock und Zylinder sowie einen ledernen Aktenkoffer trug. Ein Blick auf ihn genügte, um Vertrauen zu gewinnen. Jedes Stück seiner Kleidung war tadellos, der Hemdkragen blütenweiß, Haar und Bart gepflegt.
    Bei Mildreds Ausbruch lächelte er. »Dachte ich es mir doch. In meinem Geschäft entwickelt man dafür ein Gespür.«
    Daphnes Hand krallte sich in ihren Arm. Die Schwester hatte vor allem und jedem Angst, so respektierlich es auch daherkommen mochte. »Darf man erfahren, worin Ihr Geschäft besteht?«, fragte Mildred. »Und den Namen, wenn’s beliebt?«
    »Ich bitte um Vergebung.« Der Herr zog den Zylinder und verneigte sich so tief, dass Mildred die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf erspähte. »Frederick A. Wilson mein Name, Geschäftsleiter der Blue Flag Company, Agentur für Auswanderer.«
    Mildred hätte jubeln mögen. Stattdessen straffte sie würdevoll die

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