Die Mondrose
zu Esther hinunter. »Hör zu«, sagte sie, »deine Großmutter ist alt, und alte Leute erzählen Kindern dumme Geschichten. Die Rose hat der Gärtner gepflanzt, sie war krank, und deshalb habe ich sie zerhauen. Jetzt geh und pass auf deine Schwestern auf. Und wenn nachher der Naschwagen kommt, kaufen wir Sahnebonbons für euch alle drei.«
Esther sah sie lange an, so dass Mildred glaubte, sich unter dem Blick der blauen Augen zu winden. Schließlich drehte Esther sich um und lief davon, wie Mildred es ihr befohlen hatte. Kurz vor dem Baum, unter dem Phoebe und Georgia warteten, drehte sie sich im Laufen um. »Will keine Bonbons«, rief sie leise, das Gesicht noch immer verweint.
Schon oft hatte Mildred sich vorgenommen, Nell zur Rede zu stellen. Das Haus gehörte ihr. Sie hatte keinen Grund mehr, sich vor irgendwem darin zu fürchten. Im Gegenteil. Hätte sie gewollt, so hätte sie alle Übrigen, auch die Alte, das Fürchten lehren können. Dennoch ließ sie sich von ihr mehr gefallen als von jedem anderen, womöglich, weil ihr ein Instinkt verriet, dass sie in ihr einen Gegner hatte, der ihr gewachsen war. Gewiss hätte sie sie auch diesmal davonkommen lassen, wenn sie ihr nicht über den Weg gelaufen wäre, solange ihr Zorn noch lichterloh brannte.
Nell, die alt wie die Sünde war und hilflos auf dem Tagesbett vor sich hin hätte röcheln sollen, trat kerzengerade und tadellos gekleidet aus dem Haus und trug einen schmiedeeisernen Tisch vor sich her. Priscilla folgte ihr mit dem dazugehörigen Stuhl und einem Sonnenschirm. Mildred hatte die Reste der Rose zusammengefegt und hielt inne. Bei der hohen Goldlackhecke, die wie Honig duftete, stellte Nell den Tisch ab. Priscilla rückte den Stuhl so davor, dass der Blick des Sitzenden auf den Springbrunnen traf, den Mildred im hinteren Teil des Gartens hatte errichten lassen. Aus dem Mund eines tanzenden Fauns sprudelte eine Wasserfontäne. Mildred war stolz auf den Brunnen, weil er, wie sie fand, ausgezeichnet zu dem Titanen-Fries über dem Portal passte. Sie hatte ein Vermögen dafür ausgegeben.
»Stellen Sie den Stuhl dort hinüber, Priscilla«, sagte Nell. »Auf dieser Seite kann ich nicht sitzen.«
»Aber auf der anderen Seite bekommen Sie die Sonne ins Gesicht«, gab Priscilla zu bedenken.
»Lieber lasse ich mir den Teint von der Sonne verderben als den Appetit auf meinen Tee von diesem Ausbund an Scheußlichkeit.« Sie wies auf den Springbrunnen und schüttelte sich pikiert.
»Sehr wohl, Madam.« Priscilla schob den Stuhl auf die andere Seite.
Mildred wartete, bis das Mädchen den Tee serviert und sich getrollt hatte, ehe sie den Kehrbesen zu Boden warf und an den Tisch stürmte. »Was fällt dir ein?«, schrie sie sie an. »Den Kindern, für die ich verantwortlich bin, solche Ammenmärchen zu erzählen?«
»Muss ich wissen, wovon du sprichst, Mildred?« Die Alte, die mit geziert gespreiztem Finger an einem Scone geknabbert hatte, blickte flüchtig auf.
»Von der verdammten Rose! Von dem total verwachsenen Stock, dem ich heute den Garaus gemacht habe und von dem Esther behauptet, ihre Mutter habe den eingepflanzt.«
Nell wandte den Kopf und sah in die Richtung, in die Mildreds Finger wies. »Erstaunlich«, bemerkte sie. »Ich hätte gewettet, dass selbst das primitivste Gemüt zu einer so barbarischen Tat nicht in der Lage ist, aber du hast es tatsächlich fertiggebracht. Du hast eine Rose in der Blüte zerhackt.« Sie sagte dies in einem Ton, den Menschen im Raritätenkabinett anschlagen, wenn der Anblick einer Missgeburt sie zwar ekelt, doch zugleich fasziniert.
»Die Rose war krank!«, schrie Mildred.
Die Alte hustete. »Natürlich war sie das nicht, das weißt du so gut wie ich.«
»Und überhaupt – was schert es dich? Es ist mein Garten, ich kann darin tun, was ich will.«
»Soso«, erwiderte Nell und nahm einen lächerlich winzigen Biss von ihrem Teekuchen.
»Ich verbiete dir, Unsinn über meine Schwester zu verbreiten und Esther Flausen in den Kopf zu setzen«, herrschte Mildred sie an. »Das Kind hat Unarten genug.«
»Hat es das deiner Ansicht nach? Nun, wir werden uns in diesem wie in den meisten Fällen darauf einigen müssen, uneinig zu sein.«
»Esther ist eigensinnig, ungehorsam und faul.«
»Interessant. Mir scheint sie verständig, bemüht und ein entzückendes Geschöpf zu sein, Gaben, mit denen ihre illegitimen Halbschwestern ja leider nicht gesegnet sind.«
»Phoebe ist …«
»Ja, ja, ich weiß.« Nell winkte ab.
Weitere Kostenlose Bücher