Die Mondrose
Lüge!«
»Was du nicht sagst. Entspricht es vielleicht nicht der Wahrheit, dass Esthers Mutter eine zärtliche, vornehme Dame war, die ihr Kind liebevoll aufgezogen hätte, wäre ihr die Möglichkeit dazu nicht geraubt worden.« Mit einem Schlag schrumpfte das Lächeln ein. Der Blick, der Mildred traf, war prüfend und kalt, so dass sie hätte schreien mögen: Was unterstellst du mir? Aber eben das durfte sie nicht, es sei denn, sie wollte die Antwort hören. »Ich will, dass Esther um die Liebe ihrer Mutter weiß«, fuhr Nell mit stählerner Stimme fort. »Es wird sie stärken, so dass sie auf deine Zuneigung nicht länger angewiesen ist. Dass du meinen Enkelsohn im Inneren zerstört hast, habe ich hinnehmen müssen. Dass du meiner Urenkelin dasselbe antust, lasse ich nicht zu.«
Bis zu diesem Augenblick hätte Mildred geschworen, dass Nell nicht nur gleichgültig war, was mit Hyperion geschah, sondern dass sie sich sogar daran freute, wenn er gedemütigt wurde, weil sie ihn aus tiefstem Herzen verachtete. Wie konnte ausgerechnet sie Mildred vorwerfen, sie habe ihn zerstört – Mildred, die alles tat, um ihm ein Heim zu schaffen, ihm Kinder zu geben, auf die er stolz sein konnte, Mildred, die ihn mit einer Leidenschaft liebte, wie sie die arrogante Alte nie erlebt hatte. Auch all die blassen Amelias, Daphnes und Esthers hatten solche Leidenschaft nie erlebt, weil es dazu eines starken Herzens bedurfte. Von Mildred hätte Hyperion geliebt werden können, wie er nie geliebt worden war, unbedingt und allumfassend, so dass dieses Mal sein Göttergeschlecht nicht in Schönheit hätte sterben müssen, sondern als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen wäre.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Nell. »Dabei hätte ich gedacht, es ist unmöglich, dieses Mundwerk von dir, das man mit Seife hätte auswaschen müssen, zum Schweigen zu bringen.«
»Das ist es auch, du hässliche Vettel!«, zischte Mildred. »Du neidische Kröte! Du in Seide gewickelte Trockenpflaume!« Sollte die Alte doch gehen und sie bei Hyperion anschwärzen. Mildred würde alles abstreiten und beteuern, die arme Greisin verliere allmählich den Verstand.
Nell spitzte die Lippen, um Tee zu trinken. »Es ist ja nicht so, dass du mir nicht leidtust«, sagte sie, wandte langsam den Kopf und wies auf den plätschernden Springbrunnen. »Wie könnte einem jemand, der eine seltene Rose zerhackt und stattdessen den Garten mit einem solchen Monstrum verschandelt, nicht leidtun?«
»Was ist falsch an meinem Springbrunnen?«, hatte Mildred gefragt, ehe sie sich auf die Zunge beißen konnte.
»Alles, meine Liebe.« Wieder lächelte Nell. »Oder auch nichts, je nachdem, ob man ihn von oben oder von unten betrachtet. Er ist ein prächtiger Beweis für das Vorhandensein von reichlich Geld und völligem Mangel an Geschmack.«
»Du bist ein Snob!«, schrie Mildred.
»In der Tat«, erwiderte Nell. »Und du wärst auch gern einer. Leider wird man zum Snobismus geboren. Kaufen lässt er sich nicht, und wenn man noch so penetrant mit der Geldbörse klappert.«
»Wer hat die verdammte Rose gepflanzt? Meine Schwester nicht, also die heilige Amelia?«
»Mein Sohn«, erwiderte Nell. »Als Amelia mit Hyperion in der Hoffnung war. ›Ich habe nach den Sternen gegriffen und den Mond noch dazubekommen‹, hat er gesagt und die Mondrose gepflanzt, damit das himmlische Glück seines Hauses nie verlorenginge. Du hast sie ausgerissen. Du wirst schon wissen, warum.«
Mildred war keine Idiotin. Natürlich wusste sie, dass Nells Gerede dazu diente, ihr weh zu tun. Dennoch hatte ihr Hieb sie so tief getroffen, dass sie tagelang herumlief wie verletzt.
Es waren nicht wirklich die Worte der Alten, die den höllischen Schmerz verursachten, es war das Verhalten der Welt, das die Worte bestätigte. Hatte Mildred nicht alles getan, um die Anerkennung der Stadt zu erringen, hatte sie nicht gebuhlt und gebettelt, damit ihre Kinder den Platz in der Gesellschaft erhielten, der ihnen von Geburt her zustand? Sie hatte stolze Summen für den Hilfsfonds der Werftarbeiter und die neueröffnete Bücherei von Portsea gestiftet. Sie gab Feste im herrlichen Saal ihres Hotels, zu dem sie die Crème de la Crème einlud. Sie ritt nicht mehr im Herrensattel, nahm Sprechunterricht und führte die Kinder zur Kirche, aber die Stadt honorierte ihre Mühe mit Missachtung, zu ihren Festen erschienen nur Zugereiste und Touristen, und die Geselligkeiten in angesehenen Häusern blieben ihr
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