Die Mondrose
beiseite und stapfte zum Schuppen, um einen Spaten zu holen. Die Axt gleich dazu. Die Wurzeln der Rose hatten sich tief ins Erdreich gebohrt, aber Mildreds Spatenhiebe schlugen die längsten Triebe mit Wucht entzwei. Es war eine Wohltat, die eigene Kraft zu spüren, die unverwüstlich war wie eh und je. Sie hatte keines ihrer Kinder genährt, um diese Kraft nicht zu vergeuden, sie hatte Hyperion Glasflaschen aus dem Spital bringen lassen und hatte ihnen die Milch fetter Kühe gefüttert.
Es war ein Triumph, als die Rose hintenüberkippte. So wie dieses vielarmige Gewächs würde sie alles aus dem Weg schlagen, das Schatten auf ihr Leben warf. Mit der Axt zerteilte sie die Pflanze in Stücke, die Max nachher auf den Abfall werfen konnte.
Von neuem holte sie aus, als das Getrappel kleiner Schritte und Geschrei sie herumfahren ließ. Sie hatte den Mädchen befohlen, unter dem Birnbaum zu bleiben und auf Phoebe, die noch nicht laufen konnte, zu achten. Priscilla hatte behauptet, was Mildred tue, gefährde das Leben der Kinder, aber in Whitechapel tat es jeder, die Frauen hatten Geld heranzuschaffen, und eine Vierjährige war durchaus in der Lage, ein Kleinkind im Auge zu behalten.
Nicht so Esther! Sie war eine fahrige Träumerin, die keine Anweisung im Kopf behalten konnte. Mildred wusste, dass ihr zu oft und aus nichtigem Anlass die Hand ausrutschte, aber das Wesen des Kindes brachte sie um den Verstand. Was rief sie jetzt wieder, das kleine Gesicht einmal mehr gerötet und die großen Augen schon in Tränen schwimmend? »Doch nicht die blaue Mondrose, Mildred! Du darfst doch dem blauen Mond nichts tun!«
Sie wollte Esther nicht hassen. Man hasste kein Kind, das einem knapp bis zur Hüfte ging, aber das weinerliche Stimmchen trieb sie zur Raserei. Eine Zeitlang hatte Hyperion sie mit ins Spital genommen, und so ungern Mildred es sich eingestand, sie hatte die Stunden ohne Esther genossen. Geduldet hatte sie es natürlich trotzdem nicht lange. Zum einen war das Pack im Spital kein Umgang für ein Kind aus Mount Othrys, und zum anderen war es nicht gerecht, dass Esther den Tag mit ihrem Vater verbrachte, während Mildreds Töchter ihn kaum zu sehen bekamen.
»Die blaue Mondrose«, rief Esther heulend. »Der arme blaue Mond!«
»Was hast du damit zu schaffen?«, herrschte Mildred sie an. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst auf Phoebe achten?«
»Hab ja geachtet!«, verteidigte sich Esther. »Aber dann hab ich gesehen, dass du den blauen Mond totmachst, und das darfst du nicht. Das ist mein blauer Mond!«
»Dein ist, was der Hund macht«, blaffte Mildred und schämte sich ihrer Gossensprache. Das Kind war schuld! Sie packte es am Arm und verpasste ihm einen Klaps. Gleich darauf schämte sie sich noch mehr und ließ die Hand wieder sinken. Esther war so schmächtig, sie würde nicht lange leben. »Geh zurück zu deinen Schwestern und misch dich nicht in Dinge ein, die dich einen Dreck angehen«, gebot sie ihr.
»Der blaue Mond ist kein Dreck! Der blaue Mond geht mich an!«, widersprach Esther mit einem seltsamen Trotz, der nie laut wurde, aber umso sturer war. Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen, doch sie sprach unbeirrt weiter: »Er gehört mir, und du hast ihn totgemacht.«
»Und weshalb soll der wohl dir gehören?«
»Weil ihn die Mutter gepflanzt hat! Für mich!«
Die Mutter. Daphne. In der Maisonne spürte Mildred ein kaltes Gerinnsel, das ihr den Rücken hinunterkroch. Aber die langen Wurzeln der Rose bewiesen doch, dass der Stock seit Jahrzehnten hier stand, und Daphne hatte zur Gartenarbeit keine Kraft gehabt. »Du lügst«, sagte sie zu Esther. »Und wer lügt, bekommt Strafe.«
»Ich lüge nicht. Die Mutter hat den blauen Mond für mich gepflanzt!« Mit nassem, verschlossenem Gesicht baute sie sich vor Mildred auf.
»Jetzt hör auf zu heulen!«, schrie Mildred.
Esther schüttelte den Kopf. »Kann ja nicht.«
»Herrgott, so schlimm war es doch nicht.«
»Doch«, sagte Esther. »Du hast meinen blauen Mond totgemacht.«
»Jetzt gib Ruhe, du Plage. Ich brauche den Platz für die Gäste, und hier sind Rosen ohne Ende, oder nicht? Wer in drei Teufels Namen hat dir eingeredet, dass ausgerechnet diese deine Mutter gepflanzt hat?«
»Die Mutter hat ihn gepflanzt«, beteuerte das Mädchen. »Die Großmutter Nell hat’s erzählt.«
Nell! Die Teufelin, die für Phoebe nie einen Blick übrig hatte, geschweige denn für die arme Georgia. Mildred biss die Zähne zusammen. Dann beugte sie sich
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