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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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wandte sich ab. Er umfasste ihren Oberarm und drehte sie zu sich zurück, legte die Arme um sie und begann mit ihr zu tanzen. Lydia hatte nie tanzen gelernt, sie hatte für derlei Nichtigkeiten weder Zeit noch Geld. Der hingegen, der Horatio Weaver tanzen gelehrt hatte, war ein verteufelt guter Lehrer gewesen. Die sanfte Gewalt, mit der er sie in jede Schwingung der Musik hineinwiegte, versetzte sie in Zorn. Er überragte sie um einen knappen Kopf und tanzte mit ihr wie ein Mann, der eine Frau durchs Leben tragen wollte. Aber Männer trugen Frauen nicht durchs Leben, sie brachten sie höchstens ins Straucheln und brachen ihnen das Genick.
    Zwei, drei Paare hatten sich auf die Tanzfläche gesellt. Was taten die Übrigen? Blieben sie auf ihren Plätzen sitzen, um Lydia anzuglotzen und einander zuzutuscheln: Habt ihr’s gesehen? Horatio hat ein neues Opfer gefunden, er vernascht jetzt Esthers fade kleine Lehrerin. »Lassen Sie mich los«, sagte sie.
    Er sah sie an und erwiderte: »Nein.« Etwas Dringliches lag in dem Wort. Etwas Unerwartetes.
    »Wenn Sie es nicht tun, gebe ich Ihnen eine Ohrfeige«, sagte Lydia. »Zwar hätte ich mir dazu lieber ein Paar Handschuhe geborgt, aber zur Not mache ich mir auch die Finger schmutzig.«
    Er sah sie immer noch an. Flüchtig schien es, als würde sich sein Griff lockern, dann fasste er nach und führte sie in den Erker mit der Glastür, die auf die Terrasse hinausging. »Verzeihen Sie«, sagte er noch einmal. »Ich fürchte, ich muss das riskieren.«
    Die Angst, die sie packte, stand in keinem Verhältnis zu dem, was geschah. »Sie sind feige!«, herrschte sie ihn an. »Los, tanzen Sie in die Mitte, wo uns alle sehen, oder wagen Sie nur in dunklen Ecken einer Frau Gewalt anzutun?«
    Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn tatsächlich geohrfeigt. Mit einer weichen Wendung führte er sie in die Mitte des Saals zurück und gab sie frei. »Ich habe noch nie einer Frau Gewalt angetan«, sagte er verletzt.
    »Eine Frau, die nicht mit Ihnen tanzen will, zu zwingen, ist Gewalt.«
    Verstört furchte er die Stirn und grub eine Hand in sein Haar, so dass der scharfe Ansatz sich zeigte. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie nicht mit mir tanzen wollten«, bekannte er.
    »Ach!«, rief sie höhnisch. »Sind Sie derart von Ihrer Unwiderstehlichkeit überzeugt, dass Sie meinen, jede Frau müsse sich nach einem Tanz mit Ihnen verschmachten?«
    »Nein«, sagte er, »das meine ich nicht.«
    »Aber die meisten tun es, oder etwa nicht?«
    »Ja«, antwortete er, »die meisten tun es.«
    »Dann gehen Sie und machen Sie die meisten selig. Mir sind halbgare Schnösel mit schlechten Manieren ein Gräuel.«
    »He!« Über sein Gesicht flog die Spur eines Lächelns, und eine Faust schloss sich um Lydias Herz. »Das ist ein bisschen hart, finden Sie nicht? Eine Ohrfeige, haben Sie gesagt. Nicht drei hintereinander.«
    Sie wollte alles, aber nicht lachen. Nicht in seine Augen sehen, die sie blitzend und funkelnd zum Lachen verführten. »Lydia«, murmelte er wie in Träumen. »Der Name passt zu Ihnen.«
    »Und wie vielen Frauen erzählen Sie das?«
    »Keiner«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. »Andere Frauen dürfen nicht Lydia heißen. Lydia sind Sie.«
    »Für Sie bin ich Miss Burleigh«, wies sie ihn zurecht.
    »Sie haben wilde Gerüchte über mich gehört, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte sie. »Und wenn Sie mir gleich erzählen, sie seien alle erlogen, werde ich Ihnen kein Wort glauben.«
    »Sie sind nicht erlogen«, entgegnete er und senkte den Kopf, so dass sie statt seines Gesichts den dichten schwarzen Haarschopf sah.
    »Sie widern mich an«, sagte sie, um den Wunsch, die Hand nach diesem Haar auszustrecken, zu ersticken. »Sie brüsten sich mit Taten, für die ein Mann von Charakter sich schämen würde.«
    »Schämen?«, wiederholte er, als hätte er das Wort nie gehört.
    »Allerdings. Aber was geht es mich an? Tun Sie, was Sie wollen, Mr Weaver, nur lassen Sie mir meine Ruhe.«
    Es kostete unendliche Anstrengung, sich umzudrehen und zwischen den Gaffern hindurch zum Tisch zurückzugehen. Bei jedem Schritt war sie sich ihrer selbst bewusst – des billigen Kleides, das sie wie üblich ohne Korsett trug, ihres Haars, das geschnitten gehörte, ihres Gangs, der ihr eckig und unbeholfen vorkam. Inzwischen waren mehr Gäste auf die Tanzfläche geströmt. Am Tisch saß allein Nora Weaver und starrte in ihren Tee. Wie herzlos, das Mädchen an ihrem Geburtstag einsam sitzen zu lassen – wie

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