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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Kuchentellern.
    Die Jubilarin auf dem Ehrenplatz in der Mitte sah nicht glücklicher aus. Ihr hellblaues, mit einer Unzahl von Rüschen und Spitzen besetztes Kleid betonte ihre unnatürliche Blässe, und der Blumenkranz drohte aus ihrem farblosen Haar zu rutschen. Als sie die Hand nach ihrer Teetasse ausstreckte, erschrak Lydia. Nie zuvor, nicht einmal im Arbeitshaus, hatte sie ein so mageres Geschöpf gesehen. Nora Weavers Hand glich dem Porzellan der Tasse – bei einer festen Berührung würden beide zerbrechen.
    Lydia fand die meisten Männer, aber nur die wenigsten Frauen hässlich, und auch Nora Weaver hätte schön sein können. Sie hatte ein streng und klar geschnittenes Gesicht, reine Haut und mandelförmige Augen. Sie wäre schön, wenn sie es sich erlauben würde, durchfuhr es Lydia.
    Neben Nora saß ein dunkelhaariger Mann im schwarzen Cutaway, der seinen Teller mit einer Geste von solcher Verachtung von sich schob, als hätte man ihm keine sahnigen Teekuchen, sondern Würmer und Milben vorgesetzt. Er lehnte sich zurück, kreuzte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Was dachte sich der Kerl? Wollte er den Ehrenpreis für die schlechtesten Manieren gewinnen? Verärgert bemerkte sie, dass sie ihn anstarrte. Er hatte lange, wie Muscheln geformte Lider und Wimpern wie in schwarze Tinte getaucht.
    »He, Horatio, auf mit dir!«, rief Georgia. »Ehe dir ein Zacken aus der Krone fällt, sag deinen Untertanen zumindest guten Tag.«
    Lydia sandte ihr ein anerkennendes Grinsen. Sie mochte Georgia, die mit ihrem stämmigen Bau, dem strohigen Haar und dem breiten Mund jedem Schönheitsideal widersprach.
    Wie ein schönes träges Tier erhob sich der Mann vom Stuhl. Erst jetzt begriff Lydia. Das also war der berüchtigte Horatio, dem sein Vater den Hintern offenbar nicht kräftig genug versohlt hatte. Wütend sah Lydia zu, wie er die drei jüngeren Basen begrüßte, ohne ihnen auch nur die Hand zu geben, und sich dann mit lässigem Schwung der Schultern zu ihr und Esther umdrehte. »Lydia, das ist mein Cousin Horatio«, rief Esther geradezu stolz. »Es gefällt ihm, sich wie die Axt im Walde zu benehmen, aber wenn es ihm nicht so peinlich wäre, wäre er ein netter Kerl.«
    Horatio hob eine teuflisch schwarze Braue, die sich zum perfekten Bogen krümmte. »Was soll mir bei der Verwandtschaft noch peinlich sein?«, entgegnete er trocken und schob hastig die Hand auf seinen Rücken, als Esther danach greifen wollte. Sein Blick traf Lydia.
    »Das ist meine Freundin, Miss Lydia Burleigh«, murmelte Esther, dann ließ etwas sie verstummen. Lydia, der eine pfeilspitze Bemerkung auf der Zunge lag, sagte kein Wort.
    Sie wollte dem Mann nicht in die Augen sehen. Seine Augen waren braun und arrogant und schön. Als er sich nicht abwandte, senkte sie den Blick. Gleich darauf wurde sie noch wütender. War es nicht das, was sie ihren Schülerinnen predigte: Nie, nie, nie hat ein Mädchen Grund, vor einem Mann den Blick zu senken. Sie zwang sich, wieder aufzuschauen. Der Mann sah sie noch immer an. Die blasierte Langeweile auf seinem Gesicht war fortgewischt, doch was jetzt darauf lag, vermochte sie nicht zu deuten. Etwas Erschrockenes, Verstörtes – aber was sollte den Widerling verstört haben? Er öffnete den Mund und stieß zwei Worte aus: »Verzeihen Sie.«
    Hatte er das je zuvor getan, jemanden um Verzeihung gebeten? Er senkte den Kopf, dass ihm sein schweres Haar in die Stirn fiel und verriet, wie jung er war. Lydia zwang sich, die Schultern zu straffen. »Ich wüsste nicht, was ich Ihnen zu verzeihen hätte«, versetzte sie kühl. »Ich habe mit Ihnen nämlich nichts zu schaffen.«
    In seiner Wange zuckte ein Muskel. »Doch«, sagte er.
    Georgia kicherte.
    »Wie bitte?«, entfuhr es Lydia.
    »Doch, Sie haben mit mir zu schaffen«, entgegnete Horatio Weaver, drängte sich zwischen seiner Schwester und einem älteren Gast hindurch und kam zu ihr. Lydia sah alles, was sie nicht sehen wollte – breite Schultern, schlanke Hüften, lange Beine, die sich geradezu graziös bewegten. Warum durfte Verdorbenes so schön sein? Bevor er sich vor ihr verbeugte, gab er der Kapelle ein Zeichen. So nah war er ihr jetzt, dass sie seinen Duft wahrnahm. Sie mochte den Duft von Frauen, der von Männern war ihr zu beherrschend, zu herb, zu intensiv. Die Kapelle begann, einen langsamen Walzer zu spielen. Horatio Weaver reichte ihr den Arm.
    »Habe ich zugesagt, mit Ihnen zu tanzen?«
    Er nickte.
    »Das wäre mir neu«, sagte Lydia und

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