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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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ein Mensch für den Arztberuf geboren worden war, dann war es Esther Weaver.
    Ihre Pause hatten die beiden im Hof verbracht, um zum hundertsten Mal über den Tanztee bei Esthers Base zu streiten. Es rührte Lydia, dass Esther so viel daran lag, sie in ihre Familie einzuführen. Die Freundin wollte einfach nicht einsehen, dass Lydia zu dieser Familie nicht passte. Von Esthers Angehörigen, die sie höchstens flüchtig kannte, mochte sie nur ihren Vater, und der mied solche Feste, wo er nur konnte. Hyperion Weaver verbrachte jeden wachen Augenblick seines Lebens im Spital.
    »He, hörst du mir überhaupt zu?« Esther zupfte sie am Ärmel. »Ich habe dich gefragt, ob du das verantworten kannst, dass die arme Nora an ihrem Geburtstag zwischen alten, langweiligen Krautern sitzt.«
    »Ich bin auch ein altes, langweiliges Kraut«, gab Lydia zu bedenken.
    »Du doch nicht!«, protestierte Esther. »Du bist weder langweilig wie Noras Vetter Philip, der nur von seinem Regiment schwatzt, noch uralt wie Andrew Ternan, der vermutlich überhaupt nicht schwatzen kann.«
    Noch einmal musste Lydia lachen. »Die beiden tun mir beinahe leid. Wissen sie, wie vernichtend dein Urteil über sie ausfällt?«
    »Ach wo!«, antwortete Esther. »Ich sage das nur hier, wo es niemandem weh tut, versprochen. Außerdem fällt ihr Urteil über mich bestimmt nicht besser aus. Ich kann es förmlich hören: Esther Weaver? Meinst du den hässlichen Blaustrumpf, der nicht weiß, wie man sich die Haare kämmt, und eine Schuluniform für ein Ballkleid hält?«
    Sie lachten beide. Auch wenn Lydia Esther gern gesagt hätte, dass sie alles andere als hässlich war. Ihr Äußeres, auf das andere Mädchen so viel Mühe verwandten, schien ihr völlig gleichgültig. Sie lief in der Tat ungekämmt und in der achtlos übergeworfenen Schulkleidung umher, aber das nahm ihrer Erscheinung nicht den Zauber. Im Gegenteil. Es war bei weitem nicht nur das herrliche Haar oder die graziöse Figur des Mädchens, nach denen Männer wie Frauen die Köpfe verdrehten. Esther besaß eine Ausstrahlung, die man bei so jungen Menschen selten fand. Vielleicht war ihre Schönheit gerade deshalb so fesselnd, weil sie selbst sich ihrer gänzlich unbewusst war.
    »Wir müssen zurück«, ermahnte Lydia die Freundin und verzog das Gesicht, während sie in den strömenden Regen wies.
    »Ich bleibe hier, bis du mir versprichst, dass du mit mir zu Nora kommst«, beharrte Esther. »Bitte, Lydia, ich will dir doch endlich all die Leute vorstellen, von denen ich dir erzählt habe – Tante Bernice, aus der du vier Tanten machen kannst, und die arme Nora und meinen Cousin Horatio, das Genie.«
    »Den will ich ganz sicher nicht kennenlernen!«, begehrte Lydia auf. Esthers Cousin, der in Oxford Physik und Astronomie studierte und als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte, galt nicht nur als Genie, sondern vor allem als unersättlicher Frauenverführer. In Fratton sollte sich eine Sechzehnjährige seinetwegen aufgehängt haben, und unter Lydias Kolleginnen wurde gemunkelt, er habe ein Verhältnis mit seiner eigenen Tante, der rassigen Maria Lewis. Lydia war keine Frau, die etwas auf Klatsch gab. Aber sie war eine, die für die Rechte von Frauen eintrat, gegen frauenfeindliche Erlasse kämpfte und forderte, dass kluge Mädchen ebenso studieren durften wie kluge Männer. Horatio Weaver war ihr zuwider, weil er in einem Kommentar in der Portsmouth Times geschrieben hatte, Frauen an Universitäten trügen zwar zum Amüsement der Studenten, aber keineswegs zum Fortschritt des Landes bei.
    Aus Esthers Gesicht wich die Heiterkeit. »Horatio ist nicht der Satan, den alle in ihm sehen«, murmelte sie mit Trotz in der Stimme. »Er lässt nur keinen nah an sich heran und hat diesen Zwang in sich, Menschen gegen sich aufzubringen – aber vielleicht wäre bei einem solchen Vater ja jeder so. Ich habe einmal erlebt, wie Onkel Hector Horatio prügeln ließ. Ich war elf und Horatio sechzehn. Er hat den Gärtnern befohlen, ihn auf den Schreibtisch niederzudrücken, und dem Erzieher, ihm drei Dutzend Schläge mit dem Stock und einen Hieb mit der Kutscherpeitsche zu geben. Georgia, Nora und ich mussten dabei zusehen. Ich glaube, wenn ich Horatio wäre, ich hätte meinen Vater umgebracht.«
    Lydia fand die Vorstellung, wie dem arroganten Frauenhasser der Hintern ausgedroschen wurde, ziemlich erfreulich, so pervers ihr solche Methode der Erziehung auch erschien. »Ich will das nicht hören«, erklärte sie der Freundin.

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