Die Mondrose
herzlos von ihrem Bruder, den die Schwester offenbar nicht scherte.
Er hatte sich rasch getröstet und beglückte jetzt eine Schönheit im zartgrünen Spitzenkleid. Dass er besser tanzte als jeder Mann im Saal und sich hielt, als ließe sein Rücken sich nicht beugen, machte ihn ihr umso hassenswerter. Seltsam war allerdings, dass seine Fingerspitzen auf dem Arm der Tänzerin kaum auflagen, als würde er tatsächlich vor Berührung zurückscheuen.
Esther tanzte mit dem älteren Gast, der neben Horatio gesessen hatte, und Georgia amüsierte ihre jüngeren Schwestern mit einer komischen Schrittabfolge. »Ich hoffe, Sie langweilen sich nicht«, vernahm Lydia kleinlaut die Jubilarin neben sich. »Mochten Sie nicht mit meinem Bruder tanzen? Wie schade. Alle anderen, die kommen, streiten sich darum.«
Lydia schreckte auf. »Wollen Sie mit ihm tanzen?«, fragte sie. »Er sollte sich schämen zu vergessen, dass seine Schwester Geburtstag hat.« Es war das zweite Mal, dass sie erklärte, Horatio Weaver solle sich schämen, obgleich er gewiss kein Schamgefühl besaß.
»Horatio?« Nora lachte traurig. »Er bestürmt mich immer, ich solle mit ihm tanzen, aber ich kann es doch nicht.«
Sie konnte nicht tanzen? Lernten diese höheren Töchter nicht Walzerschritte, ehe sie ihren Namen schreiben konnten? Nora vollzog offenbar ihre Gedanken nach. »Gelernt habe ich es schon«, berichtigte sie sich. »Aber ich habe eine Störung im Blut, mir wird schwindlig und schwarz vor den Augen dabei.«
Das würde es mir auch, wenn ich so verhungert wäre wie du, dachte Lydia. Laut sagte sie: »Das tut mir leid.« Mehr fiel ihr nicht ein.
»Oh, das muss es nicht. Mir tut leid, Sie damit zu langweilen. Als ich Sie mit meinem Bruder sah, hatte ich gehofft …«
»Was hatten Sie gehofft?«
»Dass Sie Vergnügen haben. Dass Sie wiederkommen. Esther erzählt immer so nett von Ihnen.«
»Ich würde gern wiederkommen«, sagte Lydia, obwohl sie entschlossen war, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen. »Aber zu Ihnen, nicht zu Ihrem Bruder.«
Verwundert blickte Nora auf. In diesem Moment verstummte die Musik, die Tänzer strömten zurück an ihren Tisch und ersparten Lydia damit eine Frage, die sie nicht beantworten wollte. Kaum entdeckte sie Esther, packte sie sie am Arm. »Lass uns nach draußen gehen, wenn du nicht willst, dass ich ersticke«, zischte sie.
Ohne viel Federlesen lief Esther in den Erker, öffnete eine der Glastüren und zog Lydia ins Freie. Es begann gerade zu dunkeln, und die plötzliche Kühle war erlösend. »Du bist ein Engel.« Esther stöhnte. »Hätte ich auch nur einen Augenblick länger mit Andrew Ternan zubringen müssen, wäre ich im Stehen eingeschlafen.«
Fragend runzelte Lydia die Stirn.
»Ich weiß, ich bin gehässig«, gestand Esther zerknirscht. »Der Ärmste kann ja nichts dafür, dass er alt ist und die Kiefer nicht auseinanderbekommt, aber warum muss er ausgerechnet mich auffordern?«
»So sonderlich alt ist er doch gar nicht«, warf Lydia ein.
»Mindestens dreißig! Aber bitte, sprechen wir von etwas anderem.« Esther hielt inne und suchte Lydias Blick. »Das sah schön aus«, sagte sie.
»Was sah schön aus?«
»Du und Horatio.«
»Wie meinst du das?«, fragte Lydia, obwohl sie es nicht wissen wollte.
»Ihr habt euch angeschaut, als wäre euch nie zuvor ein Mensch begegnet.« Esther sagte solche Dinge, ohne zu grinsen. Sie beschrieb, was sie wahrnahm, wie sie als Kind die Entfernung des Appendix beschrieben hatte, und traf damit ins Schwarze. In Lydias Magengrube. Um sich zu beherrschen, ballte sie die Hände zu Fäusten.
»Er ist mir zuwider«, begann sie schleppend. »Und das sollte er dir auch sein. Wenn du ihm erzählen würdest, dass du Ärztin werden willst – was glaubst du, würde er dazu sagen?«
»Ich habe es ihm erzählt.«
»Und was hat er gesagt?«
»Dass ich so hässlich doch nicht wäre – wenn ich mich ein bisschen zurechtmachen würde, fände sich sicher ein Bräutigam für mich.«
»Und solche Kanaille verteidigst du?«, brach es aus Lydia heraus. »Weißt du, wo der dich und mich gern sähe? Unter der Fuchtel, als ergebene Weibchen, die einem Männchen ein süßes Heim bereiten. Und wenn du dazu nicht taugst, kannst du vor die Hunde gehen wie seine Schwester, die vor vollen Tellern verhungert, ohne dass es ihn kratzt.« Sie biss sich auf die Lippe. Vor Empörung hatte sie nicht bemerkt, wie laut sie geworden war.
»Vorurteile.« Esthers Stimme klang traurig.
Weitere Kostenlose Bücher