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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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»Ich mag dich, Esther. Deine Familie mag ich nicht.«
    »Das ist Unsinn! Hast du nicht gesagt, solche Vorurteile seien intelligenter Menschen nicht würdig? Meine Familie, das sind doch nicht nur Horatio und Onkel Hector. Weshalb solltest du Georgia nicht mögen? Es gibt niemanden auf der Welt, der so witzig ist! Und die arme Nora, was hat die irgendwem getan? Mildred ist eben Mildred – es gibt etliche, die sich über sie die Mäuler zerreißen, aber vielleicht sollten die erst einmal zustande bringen, was Mildred geschafft hat. Mich hat sie aufgezogen, nachdem meine Mutter mich verlassen hat, und das vergesse ich ihr nicht. Wer Mildred nicht mag, mag mich auch nicht, und wer die Kleinen nicht mag, ist nicht ganz bei Trost.«
    »Das denkt so mancher von mir«, erwiderte Lydia, nahm Esther beim Arm und zog sie mit sich in den Regen. »Jetzt komm, du Starrkopf. Für den Nachmittag steht Geschichte auf dem Plan, das ist nicht eben deine starke Seite. Wenn du mir die Abfolge der napoleonischen Kriege fehlerfrei herbeten kannst, komme ich in Gottes Namen mit zu deinem Tanz.«
    »Ha!«, rief Esther vergnügt. »Das wäre doch gelacht!«
    Ja, dachte Lydia. Das wäre doch gelacht. Sie kannte Esthers Entschlossenheit und wusste, dass sie an Weihnachten und Ostern eher vorbeikommen würde als am Tanz im Haus von Hector Weaver.

    Hätte es eine Wahl zum unbeliebtesten Mann der Stadt gegeben, so hätte Weaver sie zweifellos gewonnen. Er war der Inhaber der Gasanstalt. Wer in Portsmouth nicht bei Kerzenschein hocken wollte, war auf Weaver angewiesen, und wer mit der Zahlung seiner Wucherpreise auch nur eine Woche im Rückstand war, dem kappte er kurzerhand die Leitung.
    Lydia und ihre Mutter konnten ein trauriges Lied davon singen. Der Lohn, den Lydia in der Schule bezog, war kaum mehr als ein Almosen – nicht zu vergleichen mit den Gehältern an Knabenschulen. Ihre eigenen Bedürfnisse waren mehr als bescheiden, doch ihrer Mutter sollte es an nichts fehlen. Die Mutter hatte sich den Rücken krumm geschuftet, um der Tochter den Weg zu ebnen, und jetzt sollte sie in der kleinen Wohnung, die Lydia für sie beide gemietet hatte, den Rest ihres Lebens genießen. Wer ihrer Mutter das Gas abstellte, der machte sich Lydia zum Feind.
    Das Haus der Weavers – größenwahnsinnig Mount Olymp getauft – erhob sich als protziger Palast. Hätte Esther sie nicht am Arm gezerrt, hätte Lydia kehrtgemacht. Drinnen war es nicht besser. Inmitten von überladenem Zierrat kam sie sich vor, als wäre sie ins Sommerhaus der Königin geraten, und die aufgesetzte Vornehmheit erschien geradezu grotesk. Esthers Tante, die ihr hoheitsvoll die behandschuhte Hand entgegenhielt, war tatsächlich die dickste Frau, die sie je gesehen hatte. Wie viele Menschen hätte man von den Bergen, die Bernice Weaver vertilgte, ernähren können? »Noch Kuchen übrig, Tantchen?«, fragte Georgia, die mit den jüngeren Schwestern im Schlepptau folgte. Der giftige Blick, den der Fleischberg ihr zuwarf, imponierte ihr nicht.
    Die Geburtstagsgesellschaft saß im Salon um weißgedeckte Tische, zwischen denen Hausmädchen mit beladenen Teewagen hin und her hetzten. Lydia kam es falsch vor, dass Frauen im Alter ihrer Mutter diese Backfische, die niemandem von Nutzen waren, bedienen mussten. »Danke, ich kann das allein tun«, erklärte sie deshalb der Bediensteten, die zum Büfett eilen wollte, um einen Ständer mit Teekuchen für sie zu holen. Die Frau sah sie an, als wäre sie nicht bei Verstand.
    Die Kapelle, die sich um einen Flügel gruppierte, spielte dezente Klänge zur Untermalung. Dass hier später getanzt werden sollte, erschien Lydia unvorstellbar, so steif, wie die Versammelten auf ihren Stühlen hockten. Esther und Georgia hatten den jüngeren Schwestern geholfen, an einem langen Tisch Platz zu nehmen, der offenbar der Jubilarin und ihren Verwandten vorbehalten war. Auch das kam Lydia falsch vor – dass sich Esther und Georgia um ihre Schwestern, die vierzehn und elf Jahre alt waren, kümmerten wie um zwei Wickelkinder. Die Jüngste litt an krankhafter Schüchternheit und bekam auch jetzt den Mund nicht auf. Ein paar Jahre in einer öffentlichen Schule hätten sie davon kuriert, befand Lydia, aber so etwas kam für die Töchter von Mildred Weaver natürlich nicht in Frage. Stattdessen wurde der älteren Phoebe erlaubt, in dasselbe Verhalten zu verfallen. Verängstigt, als hätte man sie in einen Karzer gesperrt, kauerten beide vor vollgehäuften

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