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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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standesgemäß zu versorgen hatte, sondern stolzer Vater eines Stammhalters war, sann seit langem auf andere Wege, um seine Schäflein ins Trockene zu bringen.
    Zudem bestimmte das Testament seines Vaters, dass er von den Erträgen des Holzhandels die Hälfte seinem Bruder abzutreten hatte, obgleich der das Geld für Hirngespinste verschleuderte und im väterlichen Geschäft keinen Handschlag tat. Zu behaupten, diese Klausel sei Hector ein Dorn im Auge, war auf lachhafte Weise untertrieben. Sie saß ihm als Stachel im Fleisch und würde dort zwicken und bohren, bis er über ein eigenes Imperium verfügte und die Holzhandlung keinen Penny mehr abwarf.
    So fern ist der Tag nicht. So fern nicht.
    Von Thomas Owen, dem Architekten, der in aller Munde war, hatte er im eleganten Südwesten ein Haus gemietet. Ein Mount Othrys war es zwar nicht – das verfluchte Märchenschloss, das sein Bruder vom Vater geerbt hatte, fand in Portsmouth nicht seinesgleichen –, aber es ließ sich darin immerhin logieren, wie es Hector für seine Familie vorschwebte. Ein zweites, käuflich erworbenes Haus, das im verwahrlosten Viertel Point beim Fischereihafen lag, diente anderen Zwecken.
    Gewiss, mit der Reiselust war Geld ohne Ende zu scheffeln, nur musste einer dazu erst einmal Geld investieren. An den Fluten der Auswanderer hingegen ließ sich ohne Risiko verdienen. Während die Leute auf ihre Passagen nach Australien warteten, brauchten sie Quartiere. Die wenigsten konnten sich leisten, wählerisch zu sein, und das eine oder andere Nebengeschäft ergab sich außerdem. Zwar sah Hector in seiner neu eröffneten Mietpension am Milton’s Court nicht mehr als eine erste Sprosse – seine Ambitionen lagen im Bereich der neuen Technik, nicht in der Arbeit mit Menschen, die ihn zumeist eher ekelten. Der Leiter aber, zu der die Sprosse gehörte, würde allein der Himmel eine Grenze setzen.
    Er schaute Raymond Nettlewood, dem Buchhalter, der schon für seinen Vater gearbeitet hatte, zu, während er die letzten Posten ins Verzeichnis eintrug, dann zupfte er den Alten am Jackenärmel. »Hier sind wir fertig, was, mein Bester? Gehen wir auf einen Sprung nach drüben, sehen, wie die Navvies im Graben vorankommen?«
    Nettlewood, der mit seinen runden Augen und der gewaltigen Nase einem Eulenvogel glich, warf ihm durch Brillengläser einen gequälten Blick zu. Es war später Nachmittag, leichter Regen setzte ein, und ohne Zweifel wäre er liebend gern nach Hause gegangen, um am Ofen seine Knochen zu trocknen. Auch hielt er sich von den Wanderarbeitern, die im Barackendorf hinter der Baustelle hausten, fern. All das Fluchen, Saufen und Zotenreißen war nicht Nettlewoods Welt. Hector hingegen hatte sein Herz an die Eisenbahn verloren. Zuzusehen, wie kräftige Arme den Graben für die Schienen aushoben, erfüllte ihn mit Zuversicht. Als brächte ihn jeder Spatenstich näher an sein Ziel, so wie er Portsmouth näher an London und an den Rest der pulsierenden Welt brachte.
    Mit zwei Pfund Rindfleisch und einer Gallone Bier pro Tag wurden die Navvies abgefüttert. Das viele Rindfleisch mache sie blutrünstig, hieß es, und das Bier tat ein Übriges. Zudem erhielten sie einen Tageslohn von zwei Schillingen. Ein Haufen Geld für einen, der daheim am Hunger verreckt wäre – die meisten der Wanderarbeiter stammten aus dem Norden oder aus Irland und kamen her, weil sie in ihrer Heimat nichts zu beißen hatten. Das Geld aber war schwer verdient. Von einem Trupp Navvies wurde erwartet, dass er pro Schicht zwanzig Tonnen Erde aushob, und Lohn erhielten die Leute erst am Ende eines Monats ausgezahlt. Mithin waren Neulinge gezwungen, auf Kredit einzukaufen, und den bekamen sie nur im Laden der Eisenbahngesellschaft, dessen Wucherpreise berüchtigt waren. Zu allem Unglück befand sich der Laden neben dem Pub Dog and Donkey, der gleichfalls der Eisenbahn gehörte und sich den Rest der Lohngelder einverleibte.
    Hector hielt Nettlewood, der vor dem Graben zu entwischen hoffte, am Ärmel fest. Bis zur Mitte der Wiesenfläche hatten die Männer der Erde ihre Scharte geschlagen, in der die Schienen verlegt werden würden. Die Strecke sollte auf den neuen Pier führen, so dass die Reisenden aus dem Zug direkt aufs Schiff steigen konnten. Gut dreißig Männer schufteten unter den Augen von drei Aufsehern in der Grube, die sich als Keil in den Boden bohrte. Sie trugen die übliche Kleidung, grobe Hosen aus Baumwolle, Leinenhemden ohne Kragen, bunte Westen und weiße

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