Die Mondrose
über den bebenden Rücken. »Ich bring dich hier weg«, murmelte sie, »hörst du, mein Sperling? Ich bring dich aus dieser gottverdammten Gosse weg.« Du bist alles, was ich habe. Du bist alles, was je gut an mir war. Daphne gab keine Antwort, sondern weinte weiter. Mildred schlang die Arme um sie. »Nach Australien«, sprach sie in die Regennacht, und dann noch einmal, ihre Zauberformel gegen Kleinmut und Schwäche: »Nach Australien! Nicht erst in hundert Jahren, sondern jetzt, sobald du wieder bei Kräften bist. Wird das nicht wundervoll, Sperling, wir beide auf einem Schiff übers Meer? Das Geld für die Eisenbahn hab ich zusammen, wir fahren wie zwei Damen von Welt in einer Kutsche ohne Pferd nach Southampton, trinken mit spitzen Lippen unseren Tee, und vor dem Fenster fliegt die Welt vorbei. Und in Southampton gehen wir aufs Schiff. Für die Passage muss man nicht unbedingt bezahlen, es gibt noch andere Wege, das überlass nur mir. Aber aus dem Regen musst du. Komm, gehen wir in die Wirtschaft, ich kauf dir Pastete mit Lamm, die isst du doch gern.«
Die Schwester schluchzte und sprach kein Wort. Hilflos ließ Mildred die Arme sinken und sang wie von selbst vor sich hin:
»Lavendel ist blau, dilly dilly,
Lavendel ist grün.
Wenn ich erst König bin, dilly dilly,
Wirst du meine Königin.«
Das Lied hatte sie Daphne als Kind vorgesungen, wenn sie vor Hunger oder Furcht nicht schlafen konnte, und die Kleine hatte sie gefragt: »Wirst du wirklich König, Milly-Milly? Und ich Königin?«
Nie hatte Mildred ihr begreiflich gemacht, dass sie als Mädchen kein König werden konnte, sondern sie in ihrem kindlichen Glauben belassen. Jetzt wünschte sie sich diese Tage zurück. Glaub doch noch einmal, dass ich alles kann, mein Sperling, dass ich Schlechtes gut mache und herbeizaubere, was du dir wünschst. Sie strich durch Daphnes nasses Haar und sang weiter:
»Wer sagt dir das, dilly dilly,
Wer sagt dir so?
Mein eigen Herz, dilly dilly,
Das sagt mir so.«
Unter Mühen stemmte Daphne eine Hand aufs Pflaster und hob den Kopf. In ihre Mundwinkel grub sich ein Lächeln, das trotz der Strapazen hübsch war. »Gehen wir heim, Milly-Milly? Es ist kalt, und du musst müde sein.«
Kapitel 2
Portsmouth, Southsea, November 1860
H ector Weaver hatte die Vorstadt, in der er geboren worden war, nie so geliebt wie in diesem Herbst. Sie trug den Namen Southsea, lag westlich vor der Garnisonsstadt Portsmouth und war bei seiner Geburt im Jahre 1828 nicht mehr als ein Häuflein verstreuter Häuser gewesen. Heute hingegen, zweiunddreißig Jahre später, glich sie einer gigantischen Baustelle. Nicht allein dass neue Gebäude aus dem Boden schossen, nicht allein dass Holperpflaster nach der Methode des Schotten MacAdam geglättet wurden, indem man nur Steine verwendete, die in den Mund eines Arbeiters passten, nein, noch erregender war, was es hinter dem Gürtel der Gemeindewiesen zu sehen gab – die breite Zunge aus Gestänge, die ins Meer hinauswuchs, und der aus Stahl geschmiedete Pfad. In naher Zukunft würden die Schienen der Eisenbahn geradewegs auf jene Zunge führen.
Der Clarence Pier! Die neue Anlegestelle sollte im nächsten Sommer eröffnet werden und ein Spektakel bieten, wie es Portsmouth nie gekannt hatte. Hotels und Gaststätten waren geplant, ein Vergnügungspark auf den Wiesen um den Pier, wo sich Passagiere, die auf die Fähre zur Isle of Wight warteten, möglichst kostspielig die Zeit vertreiben sollten. Die Luft summte vor Betriebsamkeit. Hier wurde an einer Quelle gezapft, die den Wohlstand der Stadt auf Jahrzehnte nähren würde und die Englands Mittelschicht gerade erst entdeckte – die Lust zu reisen.
Auf einmal fuhr alle Welt in die Sommerfrische, erholte sich an bunten Stränden, stieg in Badekabinen, um im kühlen Nass zu planschen, und verschleuderte auf wimmelnden Promenaden mühevoll erspartes Geld. Hector, der mit seinem Buchhalter am Fuß des Piers stand, um eine Lieferung zu überwachen, rieb sich die Hände. Von diesem Kuchen würde er sich seinen Batzen schneiden und manches Sahnehäubchen obendrein.
Die Weaver’sche Holzhandlung, die Hector allein führte, weil sein Bruder nicht dazu taugte, bescherte ihm noch immer beachtliche Erträge, doch die großen Tage des Holzes waren gezählt. Der Schiffsbau, dem die Weavers ihr Vermögen verdankten, würde zu Eisenverkleidungen übergehen, und die Preise für baltische Eiche begannen schon zu sinken. Hector, der nicht nur Frau und Tochter
Weitere Kostenlose Bücher