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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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hämmern. Sie war allgegenwärtig. Ein Teil von Mildred war sie.
    Sie sah es, sobald sie um die Ecke jagte, sie brauchte kein Licht dazu. In der Tat waren die Läden geschlossen, die Einkäufer heimgekehrt, die Gasse menschenleer, bis auf die Gestalten, die sich in den Schutz eines Hoftors drückten. Drei Kerle, deren weiße Filzkappen in der Dunkelheit leuchteten. Navvies, Wanderarbeiter, die zu Hunderten in die Stadt gekarrt wurden, um Abwasserkanäle und Gräben für Schienen auszuheben. Sie hausten in Baracken, lebten von Bier und Fleischabfällen und unterschieden sich von wilden Tieren höchstens dadurch, dass niemand sie abknallen durfte. Die drei waren ohne Frage sturzbesoffen und so hemmungslos wie alles Pack, das nichts zu verlieren hatte.
    Der größte von ihnen lachte noch einmal. An den Schultern hielt er Mildreds Schwester, die in seinem Griff verschwindend klein wirkte und kaum hörbar wimmerte. Mit einem Schnalzlaut stieß er sie von sich. Sie schrie auf und stürzte zu Boden, rappelte sich auf die Knie und versuchte aufzustehen. Da trat ihr ein zweiter in den Leib, dass sie wie ein Käfer auf die Seite sackte. Röhrend und grölend warf der dritte sich über sie.
    Mildreds Zorn war maßlos. Mit Zähnen und Fäusten hätte sie auf die Kerle losgehen und sie nach Strich und Faden verdreschen mögen. Aber Mildred war ein Kind aus Londons Osten, mit jedem dreckigen Wasser gewaschen und noch im Zorn gewieft, als wäre sie ein Jahrhundert alt. So wehrhaft sie war, drei muskelbepackten Wanderarbeitern war sie nicht gewachsen, und ein unbedachter Angriff konnte für Daphne das Schlimmste bedeuten. Sie zwang sich zur Ruhe, duckte sich hinter die Mauer und wühlte unter der Schürze nach dem einzigen Gegenstand, der ihnen helfen konnte.
    Eine Pfeife. Sie hatte sie im Horn of Plenty einem beschwipsten Polizisten gestohlen, während der Tölpel sie mit liebestollen Blicken traktierte. Schon damals hatte sie geahnt, dass ihr das Ding einmal nützlich sein würde. Sie setzte es an die Lippen und blies aus Leibeskräften hinein. Dann schloss sie einen Herzschlag lang die Augen und sandte ein Stoßgebet in den verhangenen Himmel.
    »Der Bulle«, brüllte einer der Kerle, »los, weg«, und gleich darauf polterten Nagelstiefel über den Stein. Stocksteif verharrte Mildred in ihrem Versteck, bis der Lärm in der Ferne verhallte. Erst als sie nur noch ein vages Echo vernahm, rannte sie los, war im Nu bei Daphne und warf sich auf dem nassen Pflaster auf die Knie.
    Im fahlen Mondlicht glänzte der Regen. Daphne lag am Boden, presste das Gesicht auf den Stein und weinte. Behutsam umfasste Mildred ihre Schultern und zog sie in ihren Schoß. Sie hätte dem Himmel danken sollen, dass der Schwester das Unaussprechliche erspart geblieben war, doch stattdessen verfluchte sie sich, weil sie über dem albernen Klavier die Zeit vergessen hatte. Hilflos fuhr ihre Hand über das feuchte, wirre Haar. Während sie im Regen saß und die Weinende hielt, war ihr zumute, als flöge ihr Leben mit Daphne an ihr vorbei.
    Nur ein Jahr nach ihr war die Jüngere zur Welt gekommen, aber für Mildred war sie stets die kleine Schwester gewesen. Die Letztgeborene von fünf Geschwistern, von denen drei Brüder nicht mehr lebten. Die Schwächste war sie, litt an Blutarmut und setzte trotz der Leckerbissen, die Mildred für sie stibitzte, kein Fleisch an, hustete alle Winter über und lag mehr als einmal auf den Tod. Stets berappelte sie sich aber wieder und blieb am Leben, wie um Mildreds Flehen zu erhören: Gott im Himmel, wenn Du Dich nur für einen Penny um Mildred aus Whitechapel scherst, dann nimm mir nicht die Kleine. Ohne sie hab ich doch keinen Menschen mehr.
    Dasselbe stumme Gebet sprach sie jetzt, und dabei beschwor sie die Schwester, ihr zu verzeihen. Ich hab versprochen, auf dich achtzugeben. Aber ich hab dich im Stich gelassen. Für dummes Klaviergeklimper, für mein hohles Vergnügen.
    Sie hatte die Kleine vor den Prügeln des Vaters beschützt. Sie war auf der Straße neben ihr gegangen, um Pack zu verscheuchen und Dreck aus dem Weg zu treten. Um zu verhindern, dass die empfindsame Daphne auf der Petticoat Lane mit Lumpen handeln musste, hatte sie ihr die Stellung bei Stenton’s verschafft, wo ihre zarten Hände nur Rüschen und Krägen aufzubügeln hatten. Sie bürstete ihr zur Schlafenszeit das Haar wie einem vornehmen Fräulein. Dieses eine Mal aber, als Daphne sie mehr denn je gebraucht hätte, hatte sie versagt.
    Sie strich ihr

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