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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Filzkappen, vor denen jedem Weib im Umkreis graute. Die Heimatlosen galten als verdorben und verroht. Ein Schwein hat mehr Anstand als ein Navvy, behauptete Hectors Gattin Bernice, aber eines musste man den Kerlen lassen, sie besaßen die Kraft von Bullen, und das, was sie schufen, veränderte das Gesicht der Nation.
    Ihre Arbeit vermochte kein anderer zu tun. Dabei war das Aufhacken der Erde mit dem Pickel nicht einmal das Schlimmste, schon gar nicht an regnerischen Tagen wie heute, an denen der Graben einem Schlammloch glich. Die gelockerte Erde wurde in Schubkarren geschaufelt, von denen jede gut zweihundert Pfund fasste. Aber auch die Schufterei mit den Schaufeln war nicht das Schlimmste. Es war der Abtransport der Erde, der alles übertraf.
    Gab es in einer Epoche des Fortschritts, in der man Nachrichten um die Welt jagen und mit dem Segen von Stadtgas seinen Sonntagsbraten rösten konnte, für solche Verrichtungen keine Maschine? Die Anlage wirkte geradezu vorsintflutlich. Ein schmaler Balken führte in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus der Grube. Oben wartete ein Mann mit einem Zugpferd, an dessen Geschirr zwei Seile befestigt und einem Arbeiter zugeworfen wurden. Der Mann schlang eins der Enden um die bis zum Rand beladene Schubkarre und das zweite um die Leibesmitte. Hector sah dem Treiben häufig zu, hielt aber jedes Mal von neuem wie ein Kind den Atem an.
    »Darf ich mich erkundigen, was wir hier eigentlich tun?«, fragte Nettlewood, der mit den Zähnen klapperte.
    »Warten Sie’s ab, Sie Frostbeule.« In Hectors Stimme zitterte Vorfreude. »Ich versichere Ihnen, wir bekommen gleich etwas geboten, das habe ich im Gespür.«
    Das war das Talent, das Hector, nicht etwa sein Bruder, vom Vater geerbt hatte – er erkannte eine Gelegenheit, noch ehe ihm bewusst war, worin sie bestand. Jeder der muskulösen, mit Fleisch und Bier gepäppelten Navvies war einen Blick wert, wenn er die mächtige Schubkarre anhob, aber der, der jetzt die Knoten sicherte und nach den Holmen griff, stellte alle in den Schatten. Ein großer Kerl mit braunem Haar, breit wie ein Ringer und derber gebaut als die Kumpane. Dabei haftete aber seinem Gesicht etwas Hungriges an, und sein Blick war unstet. Der ist nicht geeignet, durchfuhr es Hector. Beim Steuern des Karrens kam es nicht auf Kraft an, da ja das Pferd die Zugarbeit leistete, sondern auf Geschick. Wenn es dem Mann nicht gelang, das Gefährt auf dem Balken zu halten, stürzte es zur Seite, riss ihn mit und begrub ihn unter sich. Im Sommer hatte sich ein Kerl beide Beine zerquetscht, und in Southampton hatte man einen tot aus dem Graben gefischt.
    »Zieh an!«, brüllte der Braunhaarige dem Pferdeführer zu. Der packte den Gaul am Zaum und zerrte ihn voran. Der Mann an der Karre musste sich mit ganzem Gewicht in den Rücken legen, dabei das Gefährt von sich wegstemmen und es an den Holmen steuern. Hector sah, wie Muskeln und Sehnen an den Unterarmen schwollen, wie das Gesicht sich vor Anspannung rötete. Während sein Buchhalter neben ihm schlotterte, genoss er den Anblick in vollen Zügen. Und erst die Geräusche. Das gemächliche Schnaufen des Pferdes, das Keuchen, mit dem der Brustkorb des Mannes sich füllte, das Schaben des Rades, das leise Pochen des Regens. Obendrein war das Holz feucht und rutschig, die Aufgabe doppelt gefährlich und die Spannung umso köstlicher.
    Der Herkules machte seine Sache nicht übel. Man sah ihm an, dass er nicht zu den erfahrenen Männern der Gruppe gehörte, aber er steuerte mit Bedacht und setzte keinen übereilten Schritt. Auch schien er nüchtern zu sein, was bei Navvies nicht allzu oft vorkam und nicht für den Pferdeführer galt. Der schwankte bedenklich, trat in eine Furche und strauchelte, wobei er den Gaul im Maul riss, dass dieser erschrocken den Kopf aufwarf. Die Last sackte tiefer und warf ihren Steuermann um ein Haar hintenüber. Im letzten Augenblick fing er sich und bekam die Karre wieder ausbalanciert. »Pass doch auf, du Idiot!«, brüllte er. Seine Betonung war seltsam, jedes Wort wie zerhackt. Schweiß rann ihm aus dichten Brauen in die Augen. Er hatte keine Hand frei, um ihn fortzuwischen.
    Der Pferdeführer war einer der Aufseher, die die Eisenbahngesellschaft im Ort rekrutierte. Jene Kerle soffen nicht weniger als die, deren Moral sie überwachen sollten, und waren zumeist verkrachte Existenzen, die es weidlich auskosteten, für dieses eine Mal die Oberhand zu haben. »Pass du besser auf«, brüllte der betrunkene

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