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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Weihnacht«, stieß sie aus.
    Victor nickte.
    »Lassen Sie mich vorbei, ich muss zu meiner Schwester.«
    Er machte keine Anstalten, den Weg freizugeben. »Der Schwester geht’s besser«, beteuerte er. »War eben oben, hab nach ihr gesehen.«
    Ehe sie sich’s versah, hatte sie ihn gepackt. »Was haben Sie bei meiner Schwester zu schaffen?« Der Gedanke an den Schrecken, den er Daphne versetzt haben musste, verlieh ihr ungeahnte Kraft.
    »Hab ihr nur Milch mit Honig gebracht«, murmelte er, den Blick auf ihrem Gesicht. »Und Knochenbrühe. Dachte, das könnte ihr guttun. Hab ja selbst eine Schwester, die so schlecht bei Kräften ist. Der tat’s immer gut.«
    Schamröte stieg Mildred in die Wangen. Immer tiefer geriet sie in die Schuld des Mannes, der wie ein Sklave für Weaver schuften musste. Ab und an fuhr dieser Weaver im Einspänner vor, um ihn wie einen Rotzjungen auszuschelten. Einmal hatte er ihr auf der Stiege den Weg abgeschnitten und nach der Miete gefragt. Mit einem Klaps, der ihr Tränen der Wut in die Augen trieb, hatte er sie laufen lassen, doch sein Grinsen brannte ihr im Hirn.
    »Sie will jetzt schlafen«, vernahm sie Victor. »Sie sollen sich keine Sorgen machen.«
    »Wegen der Miete …«, begann Mildred leise.
    Victor winkte ab. »Hab’s schon mit Mr Weaver geregelt. Bis zum Ende des Monats. Weil doch Weihnachten ist.«
    Hieß das, er hatte den fälligen Betrag für sie beglichen? Was verlangte er dafür? Als sie ihm nicht dankte, redete er weiter. »Ich hab frei, Miss Mildred. Und gespart hab ich auch was.«
    Jetzt also kam es. Mildreds Körper wappnete sich. Was sollte sie entgegnen? Ihn zum Teufel schicken und die kranke Daphne auf die Straße setzen lassen? Hatte sie nicht vorhin geschworen, sie würde alles für sie tun? Auch dich einem Navvy hingeben, einem fühllosen Klotz, was macht das aus? Sich das Wort Australien vorzusprechen half immer. Wenn du in Australien bist, streichst du’s dir aus dem Kopf.
    »Gaststätten sind fast alle geschlossen. Aber das Dog and Donkey hätte auf.« Sie glaubte seinen Blick auf ihrer Kopfhaut zu spüren. »Weil doch Weihnachten ist«, wiederholte er hilflos.
    »Hören Sie auf zu stammeln. Sagen Sie mir, was Sie verlangen, und dann bringen wir die Sache hinter uns.«
    »Sie sind allein«, stammelte er weiter. »Und ich bin auch allein, aber an Weihnachten, da soll doch keiner allein sein.«
    »Was wollen Sie?«
    »Sie bitten, ein Glas mit mir zu trinken. Einen Ploughman’s zu essen. Anderes gibt’s leider nicht im Dog and Donkey.«
    Mildred stockte der Atem. Was bildete der Kerl sich ein? Dass es einem Mädchen gefallen könnte, am Heiligen Fest mit ihm in einer Wirtschaft zu hocken? Einen Herzschlag lang sah sie die Gestalt des blonden Besuchers vor sich, dann aber siegte der Gedanke an den Ploughman’s. Die Vorstellung, im Warmen zu sitzen und den brüllenden Hunger zu stillen, war zu verlockend. Als er zögerlich eine Stufe hinuntertrat und ihr den Arm hinhielt, hakte sie sich, ohne ihn anzusehen, bei ihm ein.

    Das Dog and Donkey, in dem die Navvies verkehrten, war vermutlich die trostloseste Kneipe der Stadt. Die Wände schwarz vom Tabakrauch, das Holz der Möbel vernarbt, die Luft wie Fischsuppe. Mildred aber war froh, ins Warme zu kommen. Der Schankraum, aus dem sonst Säufer bis auf die Gasse quollen, war kaum halb gefüllt. Victor führte sie an einen Tisch beim Feuer. Steifgefroren setzte sie sich auf der Eckbank nieder.
    Von der Theke holte er eine Kerze, die stellte er ihr hin und ging noch einmal los. Sie streckte die Hände über die Flamme und hörte ihrem Atem zu. Es war, als hielte der Wirbel von Sorgen hinter ihrer Stirn inne. In der Kneipe stank es nach Schweiß und Gin, doch der Duft des schmelzenden Wachses deckte alles zu.
    Als Victor mit einem Tablett kam, meldete sich der Hunger. Das Tablett war beladen mit gelbem Käse, Butter, einem Brotkorb, Schüsseln mit Zwiebeln, geriebenem Apfel, Roter Beete und gehacktem Ei. Sie hätte sich alles zugleich in den Mund stopfen mögen, sich die Butter von den Fingern lecken. Victor stellte dazu noch einen Krug, aus dem es dampfte, und vor jeden von ihnen einen Becher. Dann setzte er sich auf einen Schemel, der unter seiner Last zu wackeln schien. »Frohe Weihnacht, Miss Mildred.«
    Mildred gab keine Antwort.
    Er hob den Krug und schenkte die Becher voll. Dampf stieg ihr in die Augen. Er roch nach Nelken und Zimt. Nach Weihnachten. Ohne zu zögern griff sie zu und trank. Das Getränk war

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