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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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nicht, dass ich eines Tages vor deiner Tür stehen werde, um ihn einzulösen.«
    Hyperion vergaß es allerdings, und zwar in dem Augenblick, in dem Hector ihm die Überweisung für Lydia Alexandrina Burleigh unterzeichnet hatte. Zu eilig hatte er es, ins Spital zu kommen, um Vernon das Papier zu bringen. Dessen Tadel fiel milde aus. Der alte Arzt hatte sich im Kampf gegen Windmühlenflügel aufgerieben und wünschte seinem Lieblingsschüler ein leichteres Los. Dennoch verstand er, dass Hyperion nicht anders konnte. Noch vor Einbruch der Dämmerung wurde der kleinen Lydia mit einem Schnitt die Luftröhre geöffnet, um ihr das Atmen zu erleichtern.
    Hyperion verbrachte die Nacht im Spital und schlief im Sitzen ein. Als er zu sich kam, war das Mädchen noch nicht gestorben. Er ging in die Stadt und kaufte ihr einen Abakus, was ein albernes Geschenk war, zumal sie nicht alt genug werden würde, um es zu benutzen. Vielleicht aber fand sie an den rot und blau lackierten Perlen etwas Freude, ehe farbloses Dunkel ihr Leben verschlang.

Kapitel 5
    Milton’s Court, Mietpension, Weihnacht 1860
    D er Mann, der bei Victor in der Tür gestanden hatte, war der schönste, der Mildred je begegnet war. Sie war hinuntergegangen, um Victor zusammenzustauchen, weil der wegen der Seife etwas unternehmen würde. Auch wegen der Miete. Er hatte ihr schon mehr als einmal ausgeholfen. Gleich darauf wäre sie zu Daphne zurückgekehrt, die Sorge um ihre Schwester lag ihr wie ein eiserner Ring um den Hals. Dann aber war sie stehen geblieben und hatte den Mann angestarrt. Als hätte sie keine anderen Sorgen.
    Er war schlank und von mittlerer Größe. Feingliedrig, fand Mildred, bar jener Bedrohlichkeit, die Körpern von Männern sonst anhing. Sein Anzug war ihm zweifellos auf den Leib geschneidert, schmeichelnder Stoff um graziöse Glieder. Seine Züge waren wie mit feinstem Pinsel gemalt. Hohe Wangenknochen, geschwungene Lippen und Brauen. Als er den Hut zog, sah Mildred, dass sein Haar wie Honig schimmerte.
    Männer sind nicht schön. Schön ist Daphne, die vor meinen Augen verfällt, weil ich nicht für sie sorge. Weil ich an blasierte Lackaffen denke, derweil meine Schwester sich die Seele aus dem Leib keucht und am Weihnachtstag nicht einmal einen grünen Zweig zur Freude hat.
    Mildred hielt inne und warf einen bangen Blick in den Himmel, der eisengrau über dem Hof hing. Wenigstens dem Dreck hatte sie abhelfen und das zerlumpte Bettzeug waschen wollen. Wenn es aber schneite, würde sie die Laken nicht trocken bekommen, und ohnehin war es zu kalt zum Wäschetrocknen. Auf dem Wasser hatte sich vorhin, als sie den Zuber zum Weichen hatte stehen lassen, Eis gebildet, und ihre Finger waren steif. Die Frauen warfen dennoch ihre Fetzen auf die Leine, weil es in den Schlafsälen der Pension keinen Platz zum Aufhängen gab. Der Gestank nach muffiger Feuchtigkeit ließ Mildred husten.
    Ihre eigene Wäsche duftete nach Watson’s Cleanser, was den Frauen nicht entging. Aus dem Augenwinkel bemerkte Mildred neidische Blicke. Sicher unterstellten sie ihr, dass sie für Seife und Mietzins Victor zu Willen war, eine Hure wie so viele, die für Pennys mit den Kerlen gingen. Sollten sie denken, was sie wollten. Wenn mir kein Weg bleibt, dann tu ich’s. Ich täte alles für Daphne.
    Sie hängte das Bettlaken auf. Sie und Daphne teilten sich ein Bett, und selbst das war nicht bezahlt. Anfangs war Mildred voll Zuversicht gewesen. Beschwingt zog sie morgens los, um Arbeit zu suchen, hörte sich nach Agenten um, die Bräute nach Australien vermittelten, und kaufte in hübschen Geschäften ein. Sie mochte die Stadt am Meer noch immer, obgleich sie inzwischen gelernt hatte, dass es in Portsmouth Winkel gab, die es an Verwahrlosung mit Whitechapel aufnahmen. Allen voran Milton’s Court, die um den Hof gedrängten dreistöckigen Gebäude der Mietpension. Trotz allem genoss sie den Geist, der in den Straßen herrschte. Er hatte etwas von Aufbruch, und Mildred war sicher, bald Arbeit zu finden. Doch mit jedem Tag, der verstrich, mit jeder Münze, die ihren Fingern entglitt, sank diese Sicherheit und machte Wellen von Verzweiflung Platz.
    Als das Taschentuch, in dem sie ihr Geld herumgetragen hatte, leer war, wurde Daphne krank. Bleich und kraftlos war sie immer gewesen, aber jetzt sah sie aus wie eine der Papierlaternen, durch die das Licht schimmerte, und war am Morgen zu schwach, um aufzustehen. »Lass mich nur liegen«, sagte sie mit ihrem lieben, traurigen

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