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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Das Flockengewirbel ging in Schneeregen über. In Mildreds Kopf herrschte Leere, die sich mit Angst vollpumpte, je näher sie Milton’s Court kamen. Die letzten Schritte rannte sie, dass brauner Schlamm ihr an den Beinen hochspritzte.
    Victor folgte ihr. Seine Schritte verursachten patschende Laute, und seinen Atem spürte sie im Nacken. Was war in sie gefahren? In der Frau, die in der Kneipe gehockt und sich sinnlos betrunken hatte, erkannte sie sich nicht – geschweige denn in der, die sich von einem Navvy hatte abküssen lassen. Auf der Leine im Hof schaukelten schwer vor Nässe ihre Laken. Alles war still. Ab neun Uhr herrschte Bettruhe in der Pension, und wer die brach, riskierte seine Unterkunft. Mit einem geradezu graziösen Sprung setzte Victor an ihr vorbei und öffnete die Tür zum Seitenflügel.
    Gepolter von Schritten schlug ihnen entgegen, und eine Stimme rief Victors Namen. Der bucklige Junge, Sohn einer Sippe polnischer Auswanderer, dem er die Aufsicht übertragen hatte, stolperte mit einer Kerze in der Hand die Treppe herunter. Mildred schrie. Sie wusste, was geschehen war, noch ehe der Bucklige mit dem Finger auf sie wies und »Schwester« keuchte.
    »Was ist mit Miss Mildreds Schwester, Stasiek?«
    Mildred stieß den Jungen weg und jagte die Treppe hinauf, über den stockdunklen Gang und durch den Bettensaal. »Daphne! Mein Sperling!« Ihre Stimme klang verzerrt. Vor ihrem Bett fiel sie auf die Knie und riss Daphne in die Arme. Über den Schlägen ihres Herzens hörte sie den bellenden Husten und dazwischen ein Rasseln, als würde die Gurgel der Schwester im Hals auf und ab rollen. Es war das entsetzlichste Geräusch, das sie je vernommen hatte. Der Tod, der die Rassel schwingt. »Mein Sperling«, brüllte sie, doch die Schwester gab keine Antwort. Schon zu weit fort war sie, hörte womöglich nicht einmal mehr, was Mildred ihr beteuerte. »Ich hab dich so lieb, mein Sperling, so lieb, dass es mich zerreißt.«
    Wie sie betete, Gott um einen Handel anflehte. Bring sie mir zurück. Wenn ich sie behalten darf, will ich mir für mich selbst nichts mehr wünschen. Kraftlos ließ sie Daphnes Leib auf die Matratze sinken. Dass Victor und der Pole jetzt auch da waren, bemerkte sie erst, als Kerzenschein auf Brust und Gesicht der Kranken fiel. Daphne hatte sich den Ausschnitt des Nachthemds zerrissen. Ihr zartes Gesicht war verquollen, die Haut gedunsen und mit roten Flecken übersät. Ihre Finger krallten sich um die Kehle, wie um das Schwellen aufzuhalten, ehe es ihr die Luft abdrückte.
    »Miss Mildred.« Der Pole tippte ihr auf die Schulter. Sie fuhr herum und schlug nach ihm. Er sprang zur Seite, hielt einen Korb in die Höhe, der schwer war und schwankte. »Das hier ist abgegeben. Für Miss Mildred. Von feine Herr Doktor, Bruder von Mr Weaver.«
    Mildred sah zwei Würste und einen Flaschenhals aus dem Korb ragen und glaubte Süße zu riechen, wie sie aus den Türen der Bäckereien drang. Sie hätte aufs Bett sinken und das Bewusstsein verlieren mögen, einfach nicht mehr verantwortlich sein für ihr Tun. Ich hab sie beide betrogen, Daphne und den schönen Mann. Trotz allem musste sie dulden, dass der Junge ihr den Henkel in die Hände drückte.
    Er hatte ihr zur Weihnacht eine Freude machen wollen. Er war kein überheblicher Schnösel, wie sie geglaubt hatte, sondern ein edler Mensch. Wäre sie hiergeblieben, an Daphnes Krankenbett, hätte sie ihm danken können, die guten Gaben hätten Daphne geholfen, und sie läge jetzt nicht auf den Tod. Wenn du nicht für sie sorgen wolltest, sondern mit Pack herumpoussieren, warum hast du sie nicht in Whitechapel gelassen, wo sie zumindest das Nötigste besaß? Mildred starrte in den Korb. Auf irdene Tiegel mit Etiketten vornehmer Geschäfte. Und dann fiel ihr etwas ein. Mit einem Satz sprang sie auf. »Ein Arzt!«, schrie sie. »Mr Weavers Bruder ist Arzt. Er muss kommen!«
    Einen Augenblick lang glotzten Victor und der Pole sie verständnislos an. Dann begriff Victor. »Kein Geld«, murmelte er und senkte den Kopf.
    »Das ist einerlei.« Mildred sprang vor ihn hin. »Vergeude keine Zeit, lauf los und hol ihn.«
    Seine Schritte hallten durch den Raum. Mildred atmete auf. »Es wird alles gut«, flüsterte sie und schloss von neuem die Augen. »Überlass es nur mir, mein Sperling. Alles wird gut.«

Kapitel 6
    Weihnacht
    S o kalt war es. So kalt, so kalt, so kalt. Daphne fühlte Schweiß ihren Nacken und die Stirn hinunterrinnen, und dennoch fror sie, dass ihr

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