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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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süß und scharf, es fuhr heiß durch die Kehle und wärmte ihr den Leib. »Was ist das?« Sie trank noch einen Schluck. Die wohlige Wärme breitete sich in ihrem Kopf aus und machte ihr Denken weich.
    Das Lächeln um Victors Lippen sah aus, als würde es sich fürchten. »Hot Toddy«, erklärte er. »Aus Schottland. Gut gegen Kälte.«
    Das ließ sich nicht leugnen. Mit dem nächsten Schluck war Mildreds Becher leer, und sie langte nach Brot und Käse. Auf einmal war sie froh, mit ihm hier zu sein, weil vor ihm keine Beherrschung nötig war. Sie konnte das knusprige Brot zermahlen, die Zwiebeln knacken lassen, Käse in Brocken brechen und unzerkaut verschlingen, sie konnte weitermachen, bis alle Schüsseln leer waren, und erst dann wieder nach Victor sehen. Das verzagte Lächeln hing ihm noch immer um die Lippen.
    Es war gut. Selbst die Gesellschaft eines Navvy war besser, als den Weihnachtstag allein zu verbringen. Allein mit der röchelnden Daphne, den Ängsten und der Kälte. Victor nahm den leeren Krug am Henkel und ließ ihn am Zeigefinger baumeln. »Noch einen?«
    Sie hätte ablehnen müssen, gehen und nach Daphne sehen. Die Versuchung jedoch war zu groß, die Erinnerung an die Wärme noch zu nah. Als sie nickte, stand er auf. Der Krug, mit dem er zurückkam, war größer als der erste.
    »Erzählen Sie mir von sich«, bat er schüchtern.
    »Sie wissen doch alles. Meine Schwester und ich sind auf der Durchreise. Wir wohnen in dem Dreckloch, bis wir das Geld beisammenhaben. Dann schiffen wir uns nach Australien ein.«
    »Dahin wollen Sie unbedingt? Hier gefällt’s Ihnen nicht?«
    »Doch«, entfuhr es Mildred gegen ihre Absicht.
    Victor schenkte ihr nach. »Mir gefällt’s auch«, sagte er, obgleich sie nicht danach gefragt hatte.
    Vom hastigen Essen war ihr übel. Sie trank dagegen an. »Das Meer gefällt mir«, sagte sie.
    »Wissen Sie, was ich denk?« Sein Lächeln gewann ein wenig Sicherheit. »Die Welt ist ein Körper, und das Meer ist die Seele. Das, was nicht stirbt. Bin am Meer geboren.«
    »Wo?«
    Er wies über seine Schulter. »Auf der anderen Seite. In Hamburg. Ist schön da. Aber wie wir haben leben müssen, meine Schwester und ich, das war nicht schön.«
    Erstaunt lauschte sie dem Satz hinterher. Er hätte von ihr stammen können: Wie wir haben leben müssen, meine Schwester und ich, das war nicht schön. »Ist Ihre Schwester auch hier?« Bis heute hatte sie nicht gewusst, dass Victor eine Schwester hatte.
    Harsch biss er sich das Lächeln von den Lippen. »Annette«, murmelte er, den Blick in die Flamme gerichtet.
    »Wie bitte?«
    »Annette. Meine Schwester. Irgendwann hol ich sie. Bau mir hier was auf. Bei Mr Weaver hab ich Möglichkeiten, und Portsmouth ist eine gute Stadt. Wenn ich genug gespart hab und mir ein Haus kaufen kann, hol ich Annette her.«
    Mildred sah auf den Krug. So wie er mit Geld um sich warf, würde er seinem Traum vom Hauskauf wohl kaum näher kommen.
    »Das ist nur jetzt«, warf Victor, der ihren Blick bemerkt hatte, ein. »Weil Sie mit mir hier sind. Ich trink sonst nicht.«
    Das klang wie ein misslungener Witz. Navvies waren bekannt dafür, dass sie soffen wie Wüstenblumen, und ein Navvy blieb er, obgleich er jetzt bei Mr Weaver angestellt war. Wenn sie es aber recht überlegte, hatte sie ihn nie mit einer Flasche gesehen oder Gestank nach Fusel an ihm wahrgenommen. Seine Gesichtshaut war klar, der Blick unstet, doch das Weiß der Augen rein. »Mag’s nicht«, sagte er. »Saufen, fluchen, huren. Will weg davon.«
    So wie ich, dachte Mildred. »Warum sind Sie nicht in Ihrer Heimat geblieben? Bei Ihrer Schwester. Warum haben Sie sie zurückgelassen?«
    Er senkte den Kopf. »Das wollen Sie nicht wissen.«
    Damit hatte er recht. Sie wollte nichts wissen, sondern gehen. Als sie aber versuchte sich von der Bank zu erheben, fand sie nicht die Kraft. Draußen wütete Kälte. Und in dem scheußlichen Bettensaal wartete nichts als Sorgen. Victor nahm den Krug, gab die letzten Tropfen in ihren Becher, hob das Gefäß und zeigte dem Wirt an, dass es leer war.
    »Nicht doch.«
    »Ach, für einen reicht’s ja noch.«
    Der Wirt kam mit einem Kessel. »Nur halb voll«, bat Victor und klaubte Münzen aus der Westentasche.
    Müde zuckte der Wirt mit einer Schulter. »Der Rest geht aufs Haus.« Er wischte den Haufen Geld in seine Börse und ging.
    Und was essen wir morgen, du und ich und Daphne? Wenn es schlimmer wird mit ihr, wovon kaufen wir Arznei? Dass sie zum ersten Mal einen

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