Die Mondrose
anderen Menschen in ihre Sorgen einbezog, dass sie wir dachte, nicht ich, fiel ihr erst auf, als sie den Becher geleert hatte und die Wärme zurückkehrte.
Sag mir, dass wir es schaffen werden, dass dir etwas einfällt. Sag: Musst dich nicht sorgen.
»Musst dich nicht sorgen«, sagte Victor. Vor ihr verschwamm sein Bild, die goldenen Augen und die scharfen Züge. Als er aufstand, fiel der Stuhl um, und alles schien zu schwanken. Er setzte sich neben sie auf die Bank, legte den Arm um sie und zog sie an sich. So warm war das, als wäre sein Körper ein Ofen. »Musst dich nicht sorgen, Kleines. Uns fällt schon was ein.«
Mildred schloss halb die Augen und sah durch den Schleier der Wimpern in die Flamme. Er strich still ihren Arm und summte sein Lied. Als er den Kopf senkte, bis seine Lippen die ihren berührten, erschrak sie nicht, ja, war nicht einmal verwundert. Sie dachte an den Wirt hinter der Theke, an die Gäste, die zu ihr hinstarren würden, und an Daphne, die allein in der Pension lag. An Australien, das sie nicht aufgeben durfte, und flüchtig an Honighaar und graue Augen. Gleich darauf dachte sie an nichts mehr.
Seine Lippen schmeckten nach Zimt und Nelken. Mit den Lippen war alles ausgelöscht, das ewige Fragen: Wer sieht mich, und was denkt der von mir, was würde Daphne denken? Es war, als wäre sie zum ersten Mal mit einem Menschen allein. Der Kuss tat so wohl, dass ihre Gier erwachte – wie wenn sie vor einem gefüllten Teller saß und sich wünschte, der Teller fülle sich, sooft sie aß, gleich nach.
Beim Küssen wiegte er sie. Wiegte Furcht und Kälte beiseite. Ihre Arme schlossen sich um seine Schultern, eine Hand packte sein Haar im Nacken. An ihrem Schenkel spürte sie den harten Muskel. Als er den Kopf bewegte, streiften seine Wimpern ihre Haut.
Und dann flog die Tür der Kneipe auf, der Wind blies Schnee herein, und hinterdrein stolperten drei weiß gekleidete Burschen, die Gelenke mit Glocken geschmückt. Weihnachtssänger. Einer trug den Stab mit dem Stern, ein anderer die Schale voll Wassail, Weihnachtspunsch, der erkaltet war und kaum noch dampfte. Der dritte setzte seine Trompete an, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. Seine Gefährten sangen mit glasklaren Stimmen ein Lied, das Mildred erst einmal in einer Kirche gehört hatte.
»Einst in der Königsstadt Davids
Stand ein ärmlicher Stall für das Vieh.«
Das Lied war wunderschön. Mildred schmiegte sich an Victor, und als sie aufhörten einander zu küssen, lehnte sie den Kopf an seine Schulter. So hätte sie einschlafen wollen. Den köstlichen Geschmack auf der Zunge und das Singen im Ohr, sie hatte sich nie so beschützt, so eins mit der Welt gefühlt. Die Burschen sangen noch zwei Lieder, dann trugen sie den Punsch von Tisch zu Tisch, gaben den Gästen aus der Kelle zu trinken und erbettelten dafür ein paar Münzen. Mildred und Victor hatten keinen Penny, doch die Kelle gab der Bursche ihnen trotzdem. »Zwei so verliebte Turteltauben lass ich doch nicht leer ausgehen.«
Als Mildred von der süßen Flüssigkeit trank, wurde ihr so übel, dass sie würgen musste. Mit einem Schlag zerfiel der Zauber. Victor, der sah, wie sie sich quälte, half ihr auf die Beine und führte sie durch die Hintertür. Unter dem Vordach blieb er mit ihr stehen und hielt mit seinem Körper Flocken und Wind von ihr ab. Scharf hieb die Kälte durch Schleier der Benommenheit. Mildreds Leib krümmte sich, und aus ihrer Kehle ergoss sich ein Strom in den Schnee. Sie würgte noch, als ihr Magen vor Leere schmerzte.
Victor zog sie an sich. Er knotete sein Halstuch auf, tauchte es in den Schnee und wischte ihr die Lippen ab. Das eisige Wasser tat gut. »War dumm von mir«, sagte er. »Hätte dich nicht trinken lassen dürfen, wo du seit Tagen schlecht gegessen hast. Aber das kommt nicht mehr vor. Von jetzt an sorg ich für dich.« Er küsste ihr den Kopf. »Meine Mildred. Mein Herz.«
Wäre es ihr nicht so elend ergangen, hätte sie aufgelacht. Du sorgst für mich? Weavers Prügelknabe, ein Kerl, der nicht einmal Geld für einen ordentlichen Anzug hat? Weichheit und Wärme verflogen, und übrig blieben eine schäbige Kneipe, ein Hinterhof, der nach Müll stank, und sie selbst, die sich die Seele aus dem Leib würgte. Und Daphne. So schwach sie sich fühlte, stieß sie ihn beiseite. »Ich möcht gehen.« Den Arm, den er ihr reichte, beachtete sie nicht. Während sie sich hinaus auf die Straße schleppte, hielt sie einen Schritt Abstand von ihm.
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