Die Mondrose
verdient.
»Sie dürfen’s ihr nicht verübeln«, murmelte März. »Ist nicht leicht, hier zu wohnen. Für ein Mädchen schon gar nicht. Und Miss Mildred sorgt sich Tag und Nacht um ihre Schwester.«
»Ich verüble nichts«, hörte Hyperion sich ebenso gedämpft murmeln. »Woran leidet die Schwester?«
März zuckte mit den Schultern. »Ist blutarm, sagt Miss Mildred. Eins von diesen blassen Vöglein, die man päppeln will, damit kein Wind sie umbläst. Meine Schwester ist auch so eins. Meine Schwester hätte eine Miss Mildred gebraucht, die auf sie achtet.«
»Hören Sie …«
»Oh, Verzeihung bitte – wegen Ihres Bruders …«
Hyperion schüttelte den Kopf. »Bemühen Sie sich nicht. Ich gehe selbst. Und Sie tun mir den Gefallen und besorgen Miss Mildred ihre Seife.« Erst als er sich mit beiden Händen in die Taschen langte, fiel ihm ein, dass er keinen Farthing mehr bei sich hatte.
Letztendlich hatte März es sich nicht nehmen lassen, Hyperion in die Docks zu begleiten. Von dem Werftgelände, seinen gigantischen Gebäuden und den lärmenden Kränen und Maschinen fühlte Hyperion sich wie in eine Alptraumwelt der Zukunft verschlagen. Sein Bruder hingegen war hier zu Hause, er ging in seiner Arbeit auf und hasste es, dabei gestört zu werden. Den ersten Schwall seiner Wut bekam der arme März zu spüren. Hector kanzelte den großen Mann wie einen Schulbuben ab, bis dieser mit gesenktem Kopf von dannen schlich. Wie ein Mensch imstande sein konnte, einen anderen derart zu entwürdigen, würde Hyperion ewig ein Rätsel bleiben.
»Die Prügel hätten mir gebührt«, sagte er, sobald Hector sich ihm zugesellt hatte, »nicht dem armen Kerl, der behilflich sein wollte.«
»Wie ich mein Personal behandle, überlässt du gefälligst mir«, versetzte Hector. »Zwar komme ich nicht umhin, dir recht zu geben, aber bei meinem Teutonen besteht immerhin Hoffnung, dass er lernt. Bei dir ist Hopfen und Malz verloren.«
»Der Mann ist Deutscher?«
»Vergeude nicht meine Zeit. Du bist wohl kaum gekommen, um über die Lebensgeschichten meiner Leute zu schwatzen.«
»Ich brauche einen deiner Überweisungsscheine.«
»Aha«, erwiderte sein Bruder ungerührt. »Und sicher erklärst du mir gleich, warum ich dir einen geben sollte.«
Genauso hatte es angefangen, als er Hector zu Jahresbeginn gebeten hatte, als Sponsor für das Sankt-Joseph-Spital zu zeichnen. Wie alle Freiwilligen-Krankenhäuser war auch dieses auf die Gelder der Sponsoren angewiesen, die für eine Spende von fünf Pfund und fünf Schillingen jährlich vier Patienten in ein Krankenhausbett überweisen durften. Hector hatte zehn Pfund und zehn Schillinge gezeichnet, von seinem Kontingent aber noch keinen Gebrauch gemacht, während Hyperion, der das Dreifache gespendet hatte, längst übers Ziel hinausgeschossen war.
»Ich brauche die Überweisung für ein Kind«, sagte Hyperion.
»Tatsächlich? Mir wäre neu, dass du eines hättest.«
»Für eine Dreijährige aus dem Arbeitshaus. Sie hat Diphtherie. Wenn sie keinen Luftröhrenschnitt bekommt, ist sie noch vor dem Abend tot.«
»Bemerkenswert«, stellte Hector fest. »Und darf ich jetzt noch erfahren, warum um alles in der Welt mich das kümmern muss?«
Dasselbe hatte er damals auch gefragt, und Hyperion bemühte sich nicht noch einmal, ihm eine andere Antwort zu geben als die, die er hören wollte: »Nichts.«
»In der Tat.«
Auf seine Weise hatte Hector recht. Auch ihn selbst hätte das Wohl seiner Familie kümmern sollen, nicht das Leid fremder Leute. Ohne Grund sah er das Mädchen Mildred vor sich und las die Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt in ihrem Blick.
»Ich warte. Meine Zeit ist keine unendliche Größe wie dein Edelmut.«
Hyperion seufzte. »Ich bitte dich.«
»Und das, meinst du, muss mir genügen?«
»Was willst du? Soll ich vor dir auf die Knie fallen?«
»Zuweilen stelle ich mir das nicht unerfreulich vor.« Hector verzog den Mund. »Komm morgen früh in mein Büro. Ich überschreibe dir meine Rechte, und du bezahlst mir ihren Wert.«
Ehe Hyperion einwenden konnte, dass er die Überweisung sofort brauche und derzeit nicht flüssig sei, hob Hector die Hand. »Dass du kein Geld hast, weiß ich. Leute wie du haben nie Geld, selbst wenn sie mit dem Silberlöffel im Mund zur Welt kommen.«
»Ich hatte letzthin wenig Patienten, aber nach Neujahr …«
»Lass gut sein«, verwies ihn der Bruder. »Nettlewood stellt einen Schuldschein aus, den du unterschreibst. Vergiss nur
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