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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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ihren Schreien weckte.
    Sie schlug um sich und ließ sich erst beruhigen, als Horatio sich zu ihr setzte. Sobald er das Zimmer verlassen wollte, begann sie von neuem zu schreien und zu schlagen, so dass er schließlich bei ihr blieb und Lydia sich auf einen Stuhl ans Fenster setzte. Am Morgen waren sie beide wie gerädert. Lydia musste zur Schule, und Horatio war gezwungen, statt nach Southampton durch die Stadt zu fahren, um Hedwigs Familie zu suchen. »Lass sie nicht dort, wenn du Zweifel hast, dass sie ordentlich behandelt wird«, sagte Lydia, spürte aber, dass sie nicht meinte, was sie sagte. Sie wollte das Mädchen, wenn sie zurückkam, nicht mehr in ihrem Haus finden. Warum sie so fühlte, wusste sie nicht. Nie zuvor hatte sie Abneigung gegen eine Frau in Not empfunden, aber bei dieser tat sie es, und dem ließ sich mit aller Vernunft nicht beikommen.

    In seiner Kindheit war Charles von seinem Vater kaum geschlagen worden. Zum einen hatte sich der Vater um das, was er tat, nicht gekümmert, und zum anderen war Charles gewesen, was man einen braven Jungen nannte. Duckmäuserisch, fand er. Ohne Mumm in den Knochen. Wenn er doch Schläge bekam, so war es immer Hedwig zu verdanken. Hedwig hatte sich das Knie aufgeschlagen, während er auf sie aufpassen sollte, Hedwig war schreiend aus dem Schlaf geschreckt, weil er ein Buch über Mordfälle auf dem Tisch vergessen hatte. Immer wurde er behandelt, als wäre er der ältere Bruder, der für die kleine Schwester Verantwortung trug. In Wahrheit war er zwei Jahre alt gewesen, als Hedwig, die acht war, ins Haus kam, und eine Schwester besaß er nicht.
    Er hatte alles geschluckt. Vielleicht war ein saftloser Feigling wie er dazu gemacht, die Kröten eines ganzen Tümpels zu schlucken, doch als an jenem Abend sein Vater, der ihn um einen halben Kopf überragte, auf ihn zuschoss und ihm ins Gesicht schlug, blieb ihm vor Schmerz und Schreck die Spucke weg, so dass er überhaupt nichts mehr schlucken konnte.
    Er war ein Mann, kein Junge mehr. Er hatte einen Tag unter Männern mit ähnlichen Interessen verbracht, an einem Institut, an dem er hätte studieren können, wenn sein Leben gerecht verlaufen wäre, und die gebildeten Herren hatten ihn behandelt wie ihresgleichen. Er stelle kluge Fragen, hatte der Inspektor von Scotland Yard bekundet, und für einen Laien sei er erstaunlich gut informiert. Er war kein dummer Bengel, der sich ohrfeigen ließ, und er hatte seines Vaters Zorn nicht verdient. Ja, er hatte Hedwig allein gelassen, aber mit ihrem Einverständnis und nur für einen Tag. Das Gefühl, das in ihm aufwallte, war ihm unbekannt. Es war Zorn. Der Wunsch, zurückzuschlagen. Seine Wange brannte. Der Vater holte von neuem aus. »Wo ist meine Hedwig, du Idiot? Was hast du mit ihr gemacht?«
    »Ich gehe!«, rief Charles und hielt den zweiten Schlag mit seinen Worten auf. »Du kommst ohne mich sicher besser zurecht.« Er konnte nicht glauben, dass er es war, der dies tat. Er hob die Tasche, mit der er hereingekommen war und die nur wenig Geld, einen schrumpeligen Apfel und seinen Schal enthielt, vom Boden auf und verließ das Haus. Ehe er die Tür hinter sich schloss, hörte er den Vater seinen Namen brüllen. Gleich darauf umfingen ihn Kälte und Dunkelheit.
    Er hatte es tatsächlich vollbracht. Er hatte sein Elternhaus verlassen. Ohne Unterkunft für die Nacht, ohne Geld oder Wäsche zum Wechseln stand er auf der Straße. Aber die Pennys, die er übrig hatte, mochten für eine Fahrkarte nach Southampton genügen. War nicht Southampton seine Glücksstadt, die ihm Mut und Biss verliehen hatte? Warum nicht zum Bahnhof gehen und sehen, ob noch ein Zug fuhr? Er konnte tun, was er wollte. Zum ersten Mal war er frei.

Kapitel 43
    Neujahr
    C hastity stand hinter dem Türstock verborgen und lauschte. Sie war geübt darin. So dünn konnte sie sich machen und so leise atmen, dass kein Mensch, der durch den Gang kam, sie bemerkte. Entdeckt hätte sie nur jemand, der das Zimmer betrat, aber Georgia, mit der sie es teilte, staubte im Hotel Porzellan ab, was noch Stunden dauern mochte. Es gab kaum Wintergäste, aber Georgia betonte, selbst für einen einzigen müsse alles blitzblank sein. Jeder Gast in Mount Othrys solle sich fühlen, als wäre er der einzige, denn der Gast sei König, und jeden König gebe es schließlich nur einmal.
    Lange hinter dem Türstock zu warten war Chastity gewohnt. Sie hatte auf diese Weise schon Stunden verbracht. Das, was sie hier tat, betrachtete sie

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