Die Mondrose
als ihre Lebensaufgabe. Georgia putzte das Hotel für königliche Gäste, Phoebe war ein Engel und zog Kinder auf, Esther schenkte der halben Stadt Geld, und die Mutter hielt alles zusammen. Einzig Chastity war zu nichts nütze. Wenn sie fragte, ob sie bei diesem oder jenem helfen könne, bekam sie zur Antwort: »Ach, lass nur. Ohne dich bin ich schneller, und nichts geht zu Bruch.«
Wenn sie aber das, was sie seit Jahren vorbereitete, heute zu Ende brachte, würde keiner mehr so von ihr denken. Sie würde nützlich sein, die Retterin in der Not, deren Namen die Mutter aussprach, wie sie sonst Phoebe sagte – voller Wärme und Zärtlichkeit. An diesem Abend brauchte Chastity nicht lange zu warten. Es verging keine halbe Stunde, bis die Mutter, die mit einem Brief in ihr Büro hineingegangen war, ohne Brief wieder herauskam. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte Chastity, dass sie richtig lag. Seit Jahren war dieser leere Ausdruck ihr vertraut. Es war wieder ein Brief des Erpressers gekommen.
Chastity wartete, bis von den Schritten der Mutter nichts mehr zu hören war. Dann erst verließ sie ihr sicheres Versteck, huschte über den Gang und schlüpfte ins Büro der Mutter. Keine zwei Atemzüge später stand sie schon wieder hinter dem Türstock und zog mit spitzen Fingern den Brief aus dem zerrissenen Umschlag. Dass sie sich nicht getäuscht hatte, wusste sie ohnehin. In Jahren hatte sie gelernt, das schäbige Briefpapier, das der Erpresser benutzte, unter Stapeln von Post herauszukennen.
Es war einer von denen, die sie bei sich die bösen Briefe nannte. In manchen blieb der Erpresser geradezu höflich, entschuldigte sich, weil er die Mutter behellige, und schied mit besten Wünschen für ihr Befinden. In anderen, die er offenbar schickte, wenn die Mutter nicht schnell genug zahlte, jagte sein Ton ihr Schauder über den Rücken. »Ich schreibe es Ihnen nicht zum ersten Mal«, stand auf dem billigen Bogen, »aber vielleicht zum letzten. Haben Sie vergessen, dass es in Ihrem Leben mehr als nur den einen dunklen Winkel gibt, oder glauben Sie, mir wären die anderen verborgen geblieben? Sie machen sich besser daran, es zu lernen: Mir bleibt nichts verborgen, und wenn Sie es weiter darauf anlegen, mich zu reizen, werde ich nicht nur der Polizei etwas zu berichten haben.«
Chastity ließ den Brief sinken. Sie hasste den Erpresser, weil er es wagte, der Mutter zu drohen. Der Erpresser machte die Mutter, die sonst unverwüstlich ihren Mann stand, grau vor Sorge und raubte ihr Geld, das sie im Schweiße ihres Angesichts verdiente. Zudem schrieb er von Dingen, die er nie beim Namen nannte, von denen Chastity aber spürte, dass sie den innersten Kern ihrer Familie betrafen, jenen Kern, von dem sie sich ihr Leben lang ausgeschlossen fühlte. Stellte sie den Erpresser zur Rede und enthüllte den Kern, so wäre nicht nur die Mutter erlöst, sondern vielleicht auch sie selbst.
Eilig faltete sie den Bogen zusammen und schob ihn in den Umschlag, dann lief sie auf Zehenspitzen noch einmal ins Büro und legte ihn zurück an seinen Platz. All diese Handgriffe verrichtete sie mit der Übung von Jahren. Ihr Plan, herauszufinden, wer der Erpresser war, ihn zu stellen und die Mutter von ihm zu befreien, war gereift, als sie kaum älter als zwölf war. Damals war sie so töricht gewesen, sich einzubilden, sie müsse sich einfach bei allen Leuten, die sie besuchten, das Briefpapier anschauen, und früher oder später werde sie auf den Erpresser stoßen. Ohnehin war sie ein beschämend törichtes Kind gewesen. Mit ihrer Torheit trieb sie die Mutter zur Verzweiflung, doch wenn sie dies hier vollbrachte, würde die Mutter wissen, dass sie zumindest zu etwas zu gebrauchen war.
Sie hatte unzählige Büros und Schreibpulte durchsucht, sie hatte harmlose Damen verdächtigt, weil sie billiges Papier in ihren Schüben aufbewahrten, und sie war mehr als einmal erwischt worden. Irgendwann war sie so weit gewesen, den Plan aufzugeben. Der Erpresser war zu klug für sie – wie hatte sie annehmen können, dass ausgerechnet sie ihn besiegen konnte, wenn selbst die Mutter sich ihm ergab? Wieder einmal unternahm sie Versuche, ihr auf andere Weise behilflich zu sein, aber jeder einzelne scheiterte. Trug sie Tee zu den Gästen, um der Mutter Zeit zu ersparen, verschüttete sie Milch über das Spitzendeckchen, und alles war verdorben. Noch lächerlicher waren Bemühungen, der Mutter ein Geschenk zu fertigen, eine Handarbeit, an der sie nächtelang bei
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