Die Mondrose
Bahnhof erkannte, warf die Erleichterung sie um ein Haar nieder. Ihre Kraft war gänzlich verbraucht, ihre Lungen schmerzten wie zerfetzt, doch sie hatte es geschafft. Jetzt musste sie nur noch den Zug besteigen, der sie geradewegs in Charles’ schützende Arme tragen würde. Nach links durfte sie nicht sehen, denn dort breitete sich die grenzenlose graue Fläche des Meers aus, doch mit dem nächsten Schritt tauchte sie in den Schlund der Halle und wiegte sich in Sicherheit.
Auf das neue Grauen war sie nicht vorbereitet. Menschenfluten. Eine tausendköpfige Masse umzingelte sie, und das Summen unzähliger Stimmen drang auf sie ein. In namenlosem Entsetzen sah sie den Mann mit dem Messer, der durch den Koloss aus Leibern auf sie zustrebte. Nein, nicht einen, sondern zwei, drei, vier Männer, einen von jeder Seite. Hedwig schrie und versuchte sich blind ins Freie zu kämpfen, aber da vertrat ihr einer der Männer den Weg und umfasste ihren Hals. »Wohin so eilig, schönes Kind?«
Ein zweiter sprang dazu und packte ihren Arm. Sein Lachen hallte ihr mit schrillem Echo in den Ohren. Der erste stieß sie, der zweite fing sie, ein dritter riss sie an den Haaren zu sich. Hedwig sah Farben und Formen verwischen, fühlte, wie ihre Beine nachgaben und ihre Kampfkraft erlosch. Sie würde sterben. Sie würde in der kalten Morgenstille am Boden liegen, ihr Blut um sie vergossen, und niemand würde wissen, wer sie gewesen war.
»He, ihr Strauchdiebe, lasst die Frau in Ruhe.«
Durch das unkenntliche Gewirr von Stimmen drang die eine klar. Hedwig konnte ihr Glück nicht fassen. Charles war aus Southampton zurück, er war gekommen, um sie zu retten. Mit einem mächtigen Sprung teilte er die Menge, trieb die Männer in die Flucht und fing Hedwig in den Armen auf. Plötzlich war er nicht mehr der kleine Charles mit den schmächtigen Schultern, sondern größer und breiter als sie und stark genug, sie zu halten. Hedwig ließ sich fallen. »Ist ja gut«, sprach Charles besänftigend auf sie ein. »Die Bengel belästigen Sie nicht mehr. Nicht zu glauben, dass die Stadt nicht mehr Polizei einsetzt, damit Frauen unbehelligt mit dem Zug fahren können.«
Er hatte nicht mehr seine hohe Jungenstimme, sondern die tiefe, kraftvolle Stimme eines Mannes, und er stützte leichthin ihr Gewicht. Behutsam führte er sie durch die Menge, die eine Gasse bildete, und machte halt vor einer Bank. »Wollen Sie sich setzen? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
Sie klammerte sich an seinen Unterarm, damit er nicht ging und sie wieder allein ließ. Erst als er ihr auf die Bank geholfen hatte, als ihre schmerzenden Beine und Lungen zur Ruhe kamen, wurde ihr klar, dass er sie nicht beim Namen ansprach. Sie blickte auf. Dass er nicht Charles sein konnte, begriff sie, ehe sie sein Gesicht sah. Aufschreiend wollte sie sich losreißen, doch ihr fehlte die Kraft, und dann traf sie der Blick des Fremden. Er hatte die wärmsten Augen von der Welt. »Aber wir kennen uns ja«, rief er geradezu erfreut. »Sie sind Sukie Ralphs Tochter, nicht wahr? Erinnern Sie sich? Sie waren auf meiner Hochzeit.«
Heftig schüttelte Hedwig den Kopf.
Der Mann lachte. Sein Lachen war ein zärtliches Rascheln. »Bitte verzeihen Sie. Mit meinen Manieren ist wie üblich kein Staat zu machen. Ich bin Horatio Weaver, ich kenne Ihre Mutter länger, als ich denken kann.«
Wieder schüttelte Hedwig den Kopf, ohne den Blick von seinen Augen zu lösen. »Sukie war nicht meine Mutter«, sagte sie. »Meine Mutter ist tot. Sukie ist auch tot.«
Der Mann senkte den Kopf. »Das tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Kann ich Sie vielleicht nach Hause bringen? Ich bin zu Fuß hier, mein Pferd ist lahm, aber vorn an der Straße findet sich gewiss ein Hansom Cab.«
Zu Hause war niemand. Nur der Mann mit dem Messer, auch wenn Hedwig jetzt, da der Anfall verebbte, wusste, dass es dort keinen Mann mit dem Messer gab. Aber sobald ihr Retter sie allein ließ, würde es ihn unausweichlich geben. Er sah sie jetzt wieder an, und in seinen schönen Augen fand sie Sicherheit. Und noch einmal schüttelte sie so heftig, wie sie konnte, den Kopf. »Nicht nach Hause!« Dann versagte ihr endlich die Kraft, und gnädige Schwärze hüllte sie ein.
Nass bis auf die Haut, verfroren und bitter enttäuscht kam Lydia nach Hause. Zum dritten Mal war ihr Protest vor dem Bauplatz, auf dem das neue Rathaus in die Höhe wachsen sollte, ungehört verhallt. Lydia und ihre Gefährtinnen verlangten, dass die
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