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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Kerzenlicht saß und die am Ende schwarz von ihren schmutzigen Fingern und krumm vor Knoten war.
    Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Erpresser zu finden, zu allem anderen fehlte ihr doch der Verstand. Verzweiflung hatte sie überrollt, und sie hatte nicht mehr tun können, als tagelang weinen. Sie hatte sich wieder gewünscht, dass der Tod sie holte, wie die Mutter es ihr manchmal zugeflüstert hatte, wenn Chastity als Kind nicht schlafen konnte. »Ach, du armes, törichtes Ding«, hatte sie geflüstert, »kann ja nicht einfach sein, in deiner Haut zu stecken, und warum kommt nicht der Tod, der die Starken holt, und nimmt dich Wurm einfach mit?«
    Damals hatte Chastity sich sehnlichst gewünscht, die Mutter möge einmal tun, was sie für Phoebe tat, ihr das Lied vorsingen, in dem sie König war und Phoebe Königin, in dem sie alle in Sicherheit waren und fern von jeder Gefahr. Und wenn das nicht möglich war, dann wünschte sie sich, dass der Wunsch der Mutter in Erfüllung ging, dass der Tod sie holte und die anderen von ihr befreite.
    Jetzt aber hatte es ein Ende mit solchem Wunsch, denn der Zufall war ihr zu Hilfe gekommen. Tage und Nächte hatte sie über der hässlichen Schrift des Erpressers gesessen und hätte sie unter Hunderten erkannt. Hätte sie ein von dem Mann verfasstes Schriftstück besessen, so wäre sie ihm sogleich auf die Schliche gekommen, aber der Mann hatte ihr nie geschrieben. Einzig Esther hatte er geschrieben, einen kurzen Brief zum achten Geburtstag, dem offenbar ein Geldschein beigelegt gewesen war. Bei ihrem Auszug hatte Esther achtlos gepackt, und eine Reihe Dinge waren im Zimmer der Mädchen verblieben, doch dieser Brief lag hinter einer Lade verklemmt und wurde nie entdeckt. Vor Tagen hatte Chastity ihn gefunden, weil sie nach einer Haarspange suchte, und auf den ersten Blick hatte sie gewusst, von wem er stammte.
    Von dem Erpresser. Er hatte seine Schrift verstellt, schrieb hier nicht hässlich und ungelenk, sondern im Gleichmaß, aber Chastity hatte die Buchstaben zu intensiv studiert, um sich täuschen zu lassen.
    Der Erpresser war Onkel Hector.
    Sie hatte vor dem Onkel immer Angst gehabt. Nie hatte sie ihn besuchen wollen, und die Angst quälte sie bis heute, aber Chastity würde ihr nicht nachgeben. Seit sie sein schwarzes Geheimnis kannte, hatte sie sich geschworen: Wenn der nächste Brief kommt, gehe ich zu ihm. Ich zaudere nicht. Ich bin die Retterin in der Not.
    Auf leisen Sohlen zog Chastity sich ins halbdunkle Zimmer zurück, um sich das Haar zu richten. Sie war auch darin dumm und ungeschickt, aber heute wollte sie respektabel aussehen. Nicht wie ein törichtes Mädchen, sondern wie eine Frau von bald zwanzig Jahren, die ihr Gegner ernst zu nehmen hatte. Nicht ich soll vor ihm, sondern er vor mir zittern. Sie nahm ihren Mantel aus dem Schrank und schloss ihn sorgsam bis zum Hals. Das neue Jahr, das gerade begonnen hatte, würde auch eine neue Chastity bringen – eine, mit der keine der anderen, am wenigsten jedoch ihre Mutter gerechnet hatte.

    »Wir haben Besuch.« Mit dem Staubfeudel wies Georgia auf ein Törchen im Zaun der einstigen Reitbahn, auf deren vorderer Hälfte ein Tennisplatz errichtet worden war. Mildred sah aus dem Erkerfenster und entdeckte durch die Silberfäden des Regens die verhärmte Frau, die am Zaun wartete, ein Kind auf dem Arm, zwei weitere an ihren Röcken. Wie eine Einundzwanzigjährige sah ihre Tochter nicht aus. Mildred zog es das Herz zusammen.
    Sie hatte Phoebe verboten, das Haupttor zu benutzen, durch das die Gäste auf das Portal mit dem sterbenden Titanen zustrebten. Das Verbot auszusprechen war wie ein Stich in den Leib – hatte sie nicht dieses Portal unter Schmerzen bewahrt, damit ihre Phoebe als Königin davorstehen konnte? Aber sie hatte keine Wahl. So wie Phoebe sich hier zeigte, war sie kein Anblick, den Urlauber, die sich im Paradies wähnten, goutiert hätten. Hastig löste Mildred die Bänder ihrer Schürze und warf sich ihr Cape über. »Mach du allein weiter«, bat sie Georgia. »Ich komme zurück, so schnell ich kann.«
    »Wenn’s Ostern wird, bring frische Eier mit«, rief Georgia ihr hinterdrein.
    Mildred konnte ihr die bissige Bemerkung nicht verdenken. Seit Tagen hatten sie sich vorgenommen, das Silber durchzusehen und zu notieren, was für die Saison ersetzt werden musste. Mildred hatte sich darauf gefreut. Georgia war der einzige Mensch, der ihre Begeisterung für Mount Othrys’ Besitz teilte, für das schlichte

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