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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Höhepunkt, auf den er so lange hingearbeitet hatte, mochte sich niemals ereignen.
    »Soll eintreten«, rief er und strich sich das Haar zurück. Als hätte er je darauf hoffen dürfen, einer Frau zu gefallen.
    Das Geschöpf, das – aus allen Poren triefend – in seinen Salon trat, war keine Frau, geschweige denn eine Dame. Trotz der Haube, die sie tief ins Gesicht gezogen trug, erkannte er sie sofort. Er hatte über sie Bescheid gewusst, noch ehe sie auf der Welt war, und tat es noch jetzt, auch wenn er sich nicht mehr so viele Leute leisten konnte, die Erkundigungen für ihn einzogen. »Immer herein, meine Liebe«, forderte er das Mädchen auf und wies über den Tisch mit der Whiskykaraffe hinweg auf einen gepolsterten Stuhl. »Aber legen Sie doch den nassen Mantel ab.«
    Umständlich und linkisch ließ sie sich von seinem Diener aus dem Mantel helfen. Sein Leben lang hatte sich Hector über die seltsamen Wege gewundert, die die Natur einschlug. Anders als sein Bruder hatte er nie Zeit mit dem Lesen von Darwin vergeudet, doch dass der Mensch vom Affen abstammte, leuchtete ihm ein, so ähnlich wie er ihm war. Wie aber konnte dieses bedauernswerte Häuflein Mensch von dem kraftstrotzenden, bildschönen Burschen stammen, der sie ohne Zweifel gezeugt hatte? Sie hatte die einzigartigen Augen von ihm, wie ein Stigma, um ihre Herkunft der Schande zu besiegeln, doch ansonsten waren die beiden wie Feuer und Wasser, wie Farbe und Blässe, wie die Kraft eines Erdbebens gegen einen matten, kleinen Wind. »Nehmen Sie auch die Haube ab«, riet er ihr leutselig. »Von nassem Haar fängt man sich nur allzu leicht eine unschöne Verkühlung ein.« Ihre ungeschickten Finger zerrten an dem feuchten Stoff, bis er riss und ihr ein erschrockener Laut entfuhr. Auch Hector wäre um ein Haar ein Laut entfahren. Über ihre Schultern ergoss sich in weichen Wellen hellbraunes Haar, dessen Farbe der ihrer Augen glich. »Und nun setzen Sie sich«, forderte er sie auf. »Oder sollten wir bei der persönlichen Anrede bleiben? Immerhin gilt man ja als Onkel und Nichte, auch wenn ich euch Mädchen schon lange keinen Besuch mehr wert war.«
    Die Kleine ging seitwärts bis zu dem angebotenen Stuhl, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Zweimal stolperte sie. Was konnte dieser Tolpatsch sondergleichen von ihm wollen? »Ich bin nicht als Besucherin hier«, stotterte sie kaum hörbar, als sie endlich saß. Ihre Hände krampften sich im Schoß umeinander. Nicht einmal sein Hasenfuß von Tochter hatte derart von Angst besessen gewirkt.
    »Nicht als Besucherin?« Hector hob fragend die Brauen und fing an, sich zu amüsieren.
    Ihr Kehlkopf hüpfte auf und ab, während sie sich bemühte, sich den zurechtgelegten Satz abzuringen. Was für ein Vergnügen war es, ihr zuzusehen und noch einmal die alte Macht zu spüren, die er einst über Menschen besessen hatte. Die Kleine, die den lachhaften Namen Chastity trug, holte tief Luft, dann stieß sie es heraus: »Ich bin wegen der Briefe hier.«
    »Wegen welcher Briefe?«, fragte Hector ehrlich verblüfft.
    »Wegen der Erpresserbriefe!«, warf Chastity hinterdrein und sprang auf. Gleich darauf setzte sie sich wieder, und es herrschte Schweigen, in dem die Scheite im Feuer überlaut knisterten.
    Fieberhaft arbeitete es hinter Hectors Stirn. Hatte Mildred dieses alberne Mädchen geschickt? Wusste sie alles, gab sie auf, war dies das Ende? Aber was bleibt mir denn dann?, schrie eine Stimme in ihm. Die Einkünfte aus der Gasanstalt deckten gerade eben die Kosten seines Haushalts, und die Bilanz wurde mit jedem Jahr schlechter. Die Stadtregierung hatte ihm mitteilen lassen, man werde die Liefermenge, die man von ihm bezog, einschränken, da man auf Portsmouths zentralen Plätzen Versuche mit Elektrizität wagen wolle. Victor März, dem er großzügig Geld geliehen hatte, verdiente sich eine goldene Nase mit Billighotels, statt Mount Othrys Konkurrenz zu machen, wie Hector es geplant hatte. Ihn konnte er nicht so hemmungslos wie Mildred ausnehmen, zu groß war die Gefahr, dass März irgendwann selbst zur Polizei ging. Was bleibt mir denn?, schrie die Stimme noch einmal. Er war ein Mann von sechzig Jahren, er hatte ein Haus gebaut, einen Sohn gezeugt und ein Imperium errichtet, und von alldem blieb ihm nur der Staub an seinen Händen übrig.
    »Wegen der Erpresserbriefe«, wiederholte Chastity, als würde sie fürchten, er hätte sie nicht gehört. »Die sollen aufhören. Meine Mutter arbeitet hart für ihr Geld, und diese

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