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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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du nicht nach? Warum tust du Dinge, ohne die Folgen zu erwägen? Sie hatte auch an jenem Tag Anfang Januar nicht nachgedacht und keine Folgen erwogen. Vor den entsetzlichen Worten hatte sie fliehen wollen, das war alles, was ihr den Kopf gefüllt hatte, für nichts anderes war mehr Platz.
    Die entsetzlichen Worte waren nicht verstummt. Immer mehr und mehr waren aus dem Mund des Mannes gequollen, den sie nie wieder ihren Onkel nennen würde. Sie hatte keinen Onkel, keine Mutter, keine Familie mehr. Das Leben, in das sie sich eingegraben hatte wie ein Tier in sein Nest, war eine Lüge gewesen. Sie hatte sich immer gesagt, dass sie dieses Lebens unwürdig war und eines Tages eine Tat vollbringen musste, um ein so beneidenswertes Leben zu verdienen. Jetzt aber musste sie begreifen, dass das Leben so unwürdig war wie sie. Dass sie allein in der Welt stand. Als Kind einer Mörderin.
    Wie sie aus dem Haus gelangt war, wie sie den Weg zum Bahnhof bewältigt hatte, wusste sie so wenig wie, warum sie überhaupt zum Bahnhof gelaufen war. Die Bahnhofshalle war fast menschenleer, nur zwei bunt gekleidete Frauen und ein betrunkener Soldat trieben sich dort herum und riefen sich Worte zu, deren Sinn ihr verborgen blieb. Der Soldat sprach sie an, doch als sie schrie, zog er sich zurück. Irgendwann verschwanden sie alle, und sie kauerte sich in einen Spalt zwischen zwei Bänke. Sie fror, wie sie nie zuvor gefroren hatte, so sehr, dass das Frieren alles andere auslöschte und sie sich wünschte, tot zu sein, um nicht mehr frieren zu müssen.
    Im ersten Morgengrau waren Männer in Uniformen gekommen, die ihr ihre Stiefelspitzen in Arme und Beine bohrten, um zu prüfen, ob sie lebte. Sie war dessen nicht sicher, aber als die Schmerzen von den Tritten ihren starr gefrorenen Körper durchfuhren, schrie sie und kehrte ins Leben zurück. Die Männer fragten sie, wohin sie fahren wolle, und sie sagte »Southampton«, weil es das Einzige war, das ihr einfiel. Nach Southampton fuhren Leute zum Arbeiten oder zum Einkaufen, es musste also wie eine glaubhafte Antwort klingen. An den Gesichtern der Männer erkannte sie, dass sie dieses Mal nicht dumm gewesen war. Ihre gediegene, wenn auch durchnässte Kleidung tat ein Übriges. Die Männer zeigten ihr das Gleis, von dem ihr Zug abfuhr. Sie fragten sie nicht nach einer Fahrkarte.
    So war sie an einem eisgrauen Januarmorgen nach Southampton gekommen. Die Tage und Wochen, die folgten, hätte sie gern vergessen, aber sie wusste, sie würde sie nie vergessen, so wie sie nie in der Lage sein würde, Worte zu finden und mit jemandem darüber zu sprechen. Die Worte waren Kälte, Hunger, Gewalt und Entsetzen, sie waren Schmerz, Scham und Schrecken, und wie sie zusammengehörten, konnte sie niemandem erklären, weil sie es nicht ertrug. Sie hatte nicht nachgedacht und keine Folgen erwogen. Jene Winterwochen in Southampton machten aus der dummen Chastity, die kein Recht auf ihr behagliches Leben hatte, aber doch immerhin ein Mensch war, ein Geschöpf, das weniger als ein Tier war und kein Recht auf irgendetwas hatte. Nicht einmal auf den Tod hatte eine wie sie ein Recht.
    Wenn sie zurückdachte, konnte sie noch immer nicht glauben, was dann geschehen war. Sie war das Letzte, das auf der Erde herumkroch, der Abschaum, auf den propere Menschen mit dem Finger zeigten und den niemand, der etwas auf sich hielt, berührte. Aber jemand berührte sie. Jemand hob den Abschaum auf, schlang die Arme darum und machte ihn wieder zum Menschen. Nachdem sie bald drei Monate am Bahnhof von Southampton verbracht und vor Kälte und vor Hunger ihren Körper Männern überlassen hatte, war ihr an einem Morgen im März, als der verdreckte Schnee zu tauen begann, ein Wunder geschehen.
    Sie hatte unter dem Blechdach, wo tagsüber Pferde und Hochräder eingestellt wurden, ein Feuer entfacht und fand, solange es brannte, ein wenig Schlaf. Gin half, das hatte sie bereits gelernt, aber in den Pub wagte sie sich nicht, weil die Frauen dort ihr mehr als einmal Prügel angedroht hatten, wenn sie in ihren Gefilden wilderte. Als noch ein Mann kam und sie wollte, sagte sie nicht nein. Sie sagte nie etwas. Die Leute um den Bahnhof nannten sie die Stumme, und vielleicht war sie ja stumm geworden und würde ihre Stimme nie mehr hören.
    Was sie tun musste, um die Männer zu befriedigen, wusste sie nicht. Die meisten taten einfach, was sie wollten, und ließen sie hinterher liegen. Dieser war anders. Als sie nicht tat, was er offenbar

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