Die Mondrose
Briefe machen sie krank.«
»Aha«, bemerkte Hector, in dem eine Hoffnung aufflammte. »Sag, weiß deine Mutter, dass du deswegen bei mir bist?«
»Nein, sie weiß nichts!«, erwiderte das Mädchen voll Einfalt und Stolz. »Ich bin aus eigenem Willen gekommen, und ich habe selbst herausgefunden, wer diese scheußlichen Briefe schreibt.«
»Soso.« Hector hätte sich selbst auf die Schulter klopfen mögen. Zur Sorge bestand nicht der geringste Grund, im Gegenteil, seine Saat trug Früchte, wie er sie sich nicht einmal erträumt hätte. Er beugte sich vor und sah geradewegs in die goldbraunen Augen seines Gastes. »Du hast dich also aus eigenem Willen aufgemacht, um mit mir über etwas zu sprechen, was du Erpresserbriefe nennst. Das ist sehr hübsch von dir, aber darf ich dich fragen, weshalb du es tust?«
Das Gesicht des Mädchens schien ganz spitz zu werden, so fest zog es alles zusammen. »Weil …«, begann es, brach ab und setzte noch einmal an: »Weil ich meine Mutter liebe, deshalb tue ich das!«
Hector, der sich seine nächsten Schritte bereits zurechtgelegt hatte, stockte der Atem. Weil ich meine Mutter liebe! Er wusste nicht, ob er lachen oder vor Empörung aufschreien sollte. Seine Frau hatte ihm ins Gesicht geschleudert, er könne nicht lieben, deshalb habe er seine Kinder verloren und werde niemals Liebe empfangen. Und hier saß dieses Mädchen und erklärte seine Liebe für Mildred, den Menschen, der ihm auf der Welt am ähnlichsten war. Mildred, die ihre Kinder morgen auf dem Wochenmarkt verkaufen würde, wie sie das Kind ihrer Schwester verkauft hatte, wenn es ihrem Mount Othrys dienlich war. Hatte vielleicht Mildred die Liebe ihrer Kinder mehr verdient als er?
Die verhasste Sehnsucht nach dem Sohn überfiel ihn. Hätte nicht sein Sohn die Pflicht gehabt, wie dieses Mädchen zu erklären: Ich tue es, weil ich meinen Vater liebe? Seine Fäuste verkrampften sich. Ich werde dich zerstören, schwor er sich, und wenn es die letzte Rache ist, zu der ich Kraft aufbringe, und wenn ich noch einmal wie ein Spion durch die Stadt streifen muss, um herauszufinden, wie du zu verwunden bist. Die Schwachstelle des Sohnes kannte er nur zu gut. Er würde ihm die Liebe seiner Hure nehmen, wie der Sohn ihm seine Liebe genommen hatte. Ohne die Liebe dieser Frau war der Sohn nur eine hohle Hülle, die in sich zusammenfallen würde. Vorerst aber würde sich Hector an Mildred und ihrer dummen Tochter schadlos halten. Er biss die Zähne zusammen und sandte der kleinen Chastity ein Lächeln. »Du liebst also deine Mutter, ja?«
Das Mädchen nickte. »Alle Kinder lieben ihre Mütter. Und meine Mutter hat mehr für uns getan als jede andere.«
Wieder traf es Hector wie ein Schlag ins Gesicht, aber diesmal hatte er den Gegenschlag vorbereitet. »Das ist sehr schön von dir, Chastity«, sagte er und lächelte weiter. »Und du bist sicher, dass deine Mutter deine Liebe verdient?«
»Natürlich tut sie das!«
Die bernsteinbraunen Augen wollten den seinen ausweichen, aber Hector ließ es nicht zu. »Du bist in der Tat eine brave Tochter. Und nun möchtest du zweifellos wissen, wie ich es fertigbringe, deiner so liebenswerten Mutter diese – wie sagtest du? – diese scheußlichen Briefe zu schreiben, nicht wahr?«
»Ja, das möchte ich!«, rief das Mädchen, das nicht wusste, was ihm blühte, mit frisch erwachtem Mut.
Hector lächelte noch immer. »Dann werde ich es dir sagen«, versprach er und versenkte seinen Blick in das leuchtende Braun ihrer Augen, wie er ihn einst in Victor März’ Augen hätte versenken wollen. »Du hältst mich für einen Erpresser, weil ich von deiner Mutter Geld verlange. Gewiss, so könnte man die Sache betrachten. Ich aber betrachte sie anders. Ich halte mich für einen Richter, der Vergeltung für ein Unrecht fordert, das nie gesühnt worden ist. Natürlich könnte ich zur Polizei gehen, aber damit würde ich nicht nur deine Mutter, sondern zugleich meinen Bruder und meine Nichten bestrafen. Ich habe nach Wegen gesucht, nur die zu treffen, die das Verbrechen wider die Natur begangen hat.« Er machte eine genussvolle Pause und schloss halb die Augen, ehe er die letzten Sätze über seine Zunge rollen ließ. »Deine Mutter, Chastity, ist eine Mörderin. Sie hat ihre eigene Schwester und ihren kaum drei Jahre alten Neffen bei Nacht getötet und im Meer versenkt.«
Kapitel 44
Frühling nach hartem Winter
C hastity war ein dummes Mädchen, das unzählige Male gefragt worden war: Warum denkst
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