Die Mondrose
erwartete, beschimpfte er sie, und dann schlug er zu. Er schlug auf sie ein, bis sie nicht mehr war als ein Bündel Schmerz, das sich am Boden krümmte. In ihrem Mund war eine Woge mit dem metallischen Geschmack von Blut, und sobald sie die Kraft aufbrachte, sie zu schlucken, wallte sie von neuem auf. Irgendwann verschwand der Mann. Sie blieb liegen und hoffte zu sterben, aber zum Sterben war zu viel Schmerz da, zu viel Kälte und Blut, das ihr aus Mund und Nase rann.
Dann geschah das Wunder. Zuerst hörte sie nur eine Stimme, die dicht an ihrem Ohr rief: »Können Sie mich hören, Miss? Sie müssen mir sagen, wer Ihnen das angetan hat, Sie müssen es mir sagen!«
Sie sagte nichts. Sie krümmte sich nur noch mehr zusammen. Die Stimme entfernte sich, jedoch nicht weit genug. »Helfen Sie mir«, hörte sie den fremden Mann rufen. »Hier liegt eine verletzte Frau, ich brauche Hilfe!«
Plötzlich fühlte sie sich von Händen aufgehoben und verschleppt. Der Versuch, sich zu wehren, blieb sinnlos, zu wild wühlte der Schmerz bei jeder Bewegung in ihrem Leib. Eine Zeitlang verlor sie das Bewusstsein, und das Nächste, was sie spürte, war Wärme. Unendliche Wärme, die ihren Körper umflutete, ihn liebkoste und gleich wieder in den Schlaf sandte. Wie viel Zeit sie so verbrachte, aus dem Schlaf schreckend und in der Wärme von neuem darin versinkend, erfuhr sie erst später – drei Tage. Währenddessen hatte der Mann, der sie in sein Zimmer gebracht und einen Arzt gerufen hatte, sie bewacht und gepflegt. Als er schließlich aus dem Haus musste, bezahlte er seine Wirtin, damit sie sie bewachte und pflegte. Er hatte kaum Geld, lebte von seiner Arbeit als Straßenkehrer und bezahlte davon die Stunden, die er in einem Institut nahm, um Anwalt zu werden. Aber an ihrer Pflege sparte er nicht.
Ihr Körper genas. Bald war sie so gesund, dass sie alles, was ihr zuteilwurde, genoss. Die Wärme im Bett, unter weichen, duftenden Decken. Die Leckerbissen, die ihr Retter ihr einflößte – mit Sirup gesüßte Milch, zerdrückte Kartoffeln, heiße, würzige Brühe. Seine Stimme, mit der er immer wieder versuchte zu ihr durchzudringen. Es war die Stimme eines Mannes, doch sie war weicher und zarter als gewöhnliche Männerstimmen, eine Stimme, vor der sie sich nicht fürchten musste. Als er tagelang versucht hatte sie mit seinem Sprechen zu erreichen, hörte er zu sprechen auf und begann zu singen.
Die Sprache, in der er sang, verstand sie nicht, aber das Lied war das schönste, das sie je gehört hatte. Schöner als das Lied vom Lavendel und dem König und der Königin. »Mögen Sie das?«, fragte er erfreut. »Das hat mein Vater für meine Base gesungen, wenn sie vor Angst nicht schlafen konnte. Es ist ein Lied vom Mond, der nur halb zu sehen ist und dennoch schöner als alles, was wir fertigbringen könnten. Eigentlich ist es ein Gebet.«
Niemals hatte ein Mensch auf solche Weise mit ihr gesprochen, niemals hatte ein Mensch für sie gesungen. Irgendwann schlug sie, als er bei ihr war, die Augen auf, weil sie ihn sehen wollte. Er hatte dunkles Haar und helle Augen, die ihr vertraut erschienen. Er war weder groß noch breit. Sie fand ihn schön. Als er entdeckte, dass sie ihn ansah, lächelte er.
»Sie sind ja wach! Dem Himmel sei Dank. Können Sie sprechen, können Sie mir sagen, wie Sie heißen? Ich heiße Charles Ralph, bin Student der Rechte und wünsche mir nichts mehr, als zu hören, wer Sie sind.«
Wer war sie? Darüber musste sie nachdenken. Immerhin hatte sie drei Monate lang kein Mensch mehr danach gefragt. Ihr fiel ein, dass sie Chastity gewesen war, aber die konnte sie jetzt nicht mehr sein. All die Zeit über sah sie in sein Gesicht, das angespannt, ja geradezu ängstlich auf ihre Antwort wartete, und sie erkannte, dass sie ihm gefallen wollte. Er sollte die, die sie war, gern mögen und ihr erlauben, in dem warmen Zimmer mit der Honigmilch und seiner Stimme zu bleiben. Sie wollte ihm den schönsten Namen nennen, den sie kannte. Alle Namen überdachte sie, die sie in ihrem einstigen Zuhause gehört hatte, bis ihr der eine einfiel, der der richtige war. Sie bemühte sich um ein Lächeln, auch wenn es noch weh tat. »Amelia«, sagte sie.
Seit er frei war, hatte er manches Mal an Mädchen gedacht. Natürlich wusste er, dass die meisten seiner Kameraden Mädchen hatten, und es war auch nicht so, dass er sich selbst keines wünschte. Nur so, dass er Angst hatte. Er war niemandem gewachsen gewesen, wie sollte er einem
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