Die Mondrose
seinem Martyrium nichts verriet. Vielleicht war ihm die Maske irgendwann zum Gesicht geworden. Jeder sagte es ja: Ihr Vater war ein charismatischer Mann, einer, den man ins Unterhaus wählen wollte und zum Empfang einlud. Aber zugleich einer, der keinen anderen nah an sich heranließ.
Er musste vergessen haben, die Zimmertür zu schließen, weil das Mädchen einen freien Abend hatte und er Annette bei Selene wähnte. Sie schlich durch die Halle, die wie das ganze Haus hell erleuchtet war. Ihr Vater liebte Licht. Auf dem Rosenholztisch lagen neben dem neu installierten Telefon seine Zeitungen und das Magazin, das er aus London bezog – The Suffragette. Auch wenn das Frauenwahlrecht in ihrem Haus ein Thema war, solange Annette denken konnte, amüsierte es sie, dass ihr so ausnehmend männlicher Vater eine Zeitschrift las, die für Frauen bestimmt war. Vor der Tür, aus der die Stimmen drangen, hielt sie inne. Ein wenig schämte sie sich. Sie hätte sich bemerkbar machen müssen, aber dass sie lauschte, geschah mehr aus Liebe denn aus anderen Gründen.
Durch den Türspalt sah sie ihren Vater, der noch im dunklen Anzug vor dem Bett kniete. Ihre Mutter litt an einer Krankheit, die erst vor gut sechzig Jahren von einem deutschen Arzt entdeckt und »Weißblütigkeit« genannt worden war. Für diese Krankheit gab es keine Heilung. Hyperion hatte gesagt, die Mutter werde einfach immer schwächer werden, Schmerzen in den Knochen haben, bis sie nicht mehr gehen könne, und innerhalb von Wochen sterben. »Es tut mir von Herzen leid, Horatio«, hatte er gesagt. Es war das erste Mal, dass Annette hörte, wie er den Vater beim Vornamen nannte.
Die Mutter war tatsächlich immer schwächer geworden. Sie aß nur winzige Bissen, blutete aus Mund und Nase und stöhnte beim Gehen vor Schmerzen. Aber sie starb nicht. Oder besser, ihr langsames Sterben fand seit drei Jahren kein Ende. Pflegerinnen kamen ins Haus, aber die Mutter fühlte sich in ihrer Nähe unwohl. Sie mochte niemanden bei sich haben, nur den Vater, der sich aufrieb, um sie neben seiner Arbeit zu pflegen. Zu Annette, die helfen wollte, hatte sie gesagt: »Ich weiß, ich mute deinem Vater zu viel zu, aber er hat geschworen, er lässt mich nie im Stich.«
Gerade musste er versucht haben, ihr ein wenig Essen einzuflößen, schob aber den Teller unberührt zur Seite. Behutsam hob er ihr den Kopf und setzte die Schnabeltasse an ihre Lippen. Sie leckte einen Tropfen von der Tülle, dann sagte sie: »Es ist gut, Lieber. Mehr kann ich nicht.«
»Du hast ja gar nichts getrunken.«
»Das macht nichts. Ich werde ja nicht mehr viel brauchen.« Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, und er schreckte zurück, wie er es immer tat, wenn er nicht aufpasste. Dann besann er sich und überließ sich ihr. Sie grub ihre Hand in sein Haar, wie ein Zweig ragte ihr Arm daraus hervor. »Horatio«, sagte sie krächzend, »ich habe dein Leben zerstört.«
»Trink lieber, statt deine Kraft aufs Unsinnschwatzen zu vergeuden. Es ist nicht deine Schuld, dass du krank geworden bist, oder doch?«
»Das meine ich ja nicht, Lieber.« Sie streichelte sein Gesicht, obwohl es sie Mühe kostete und er es nicht mochte. »Weißt du, was das Schlimmste ist? Ich kann es nicht einmal bereuen, weil ich nicht weiß, wie ich ohne dich hätte leben sollen.«
»Du sollst ja auch nichts bereuen, du Dummes. Hatten wir es miteinander nicht ziemlich gut?«
»Ich hatte es sehr gut«, erwiderte sie. »Aber du nicht. Ohne das Kind …«
»Hedwig, hör damit auf«, sagte er, entzog sich ihrer Hand und erhob sich, um sich neben ihr Bett auf den Schemel zu setzen. »Es war auch nicht deine Schuld, dass ich dir ein Kind gemacht habe. Und es war erst recht nicht deine Schuld, dass du es verloren hast.«
»Hätte ich es früher verloren, hättest du mich nicht geheiratet.«
Er schluckte hart. »Vergiss das doch. Wir haben Annette bekommen. Niemand könnte sich ein größeres Geschenk als Annette wünschen.«
»Horatio«, sagte die Mutter, »bitte sei nicht so weit von mir weg.«
Ergeben kniete er sich wieder vor das Bett. Er war ein schlanker, sehniger Mann mit einem immens geraden Rücken und Schultern, von denen sein Schneider sagte, sie seien geschaffen, um für Anzüge Werbung zu laufen. Sein Haar war noch dicht und schwarz, er vergaß gelegentlich, es sich schneiden zu lassen, und Frauen, selbst Mädchen in Annettes Alter, fanden ihn umwerfend attraktiv. Dachte ihre Mutter daran? Fragte sie sich, ob ihr
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