Die Mondrose
verbieten. Wenn du partout darauf bestehst, soll ich dir das Geld dafür zur Verfügung stellen. Von dir verlangt sie nur, dass du selbst ihr sagst, wie du dich entschieden hast.«
Für Augenblicke glaubte Selene ihren Ohren nicht zu trauen. Ihr Traum wurde wahr. Sie würde nach Belfast fahren und die Titanic sehen. Jäh verspürte sie den Wunsch, ihrem Vater um den Hals zu fallen, obgleich derlei Liebesbekundungen zwischen ihnen nicht üblich waren.
»Deinem Gesicht sehe ich an, dass deine Entscheidung nicht zu meinen Gunsten ausgefallen ist«, sagte ihr Vater. »Nun denn, ich beuge mich den Kräften, die in dieser Familie walten, und bereite die Papiere für dich vor. Du sprich derweil mit deiner Mutter. Zwischen uns ist ja alles gesagt.«
Die Mutter saß im Wintergarten und sah hinaus auf die letzten blauen Rosen. Mondrosen nannte sie sie. Sie waren schön, sehr alt und ein wenig morbide wie alles, was die Mutter liebte. Als Selene eintrat, drehte sie sich um und lächelte. Sie hatte geweint. »Es ist nicht leicht, die Tochter einer derart überängstlichen Mutter zu sein, nicht wahr?«, fragte sie.
Augenblicklich tat Selene alles leid, ihre Rastlosigkeit, der Wunsch, der Enge dieses Hauses zu entkommen, und ihre Mutter für einen Koloss aus Stahl zu verraten. Sie war eine wundervolle Mutter. Vermutlich gab es auf der Welt kein Kind, das mehr geliebt wurde als Selene.
Aber nach Belfast wollte sie trotzdem. »Ich bin doch im Frühling wieder da«, sagte sie, lief zu ihrer Mutter und schlang die Arme um sie.
Die zog sie kurz an sich, dann gab sie sie frei. »Ich will dir etwas erzählen, Selene. Weißt du, dass ich mir einmal geschworen habe, dir bei der Erfüllung deiner Träume nie Steine in den Weg zu legen? Du solltest das Geld dazu haben und die Möglichkeiten, nicht anders als ein Mann. Ich hatte alles durchdacht, nur eines nicht – dass es mir das Herz zerreißen würde, dich gehen zu lassen, weil ich dich so sehr liebe.«
»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte Selene. »Ich gehe doch nicht ans Ende der Welt wie Annette. Und ich bleibe auch nur ein paar Monate weg.«
»Ja, du hast recht. Das hat Horatio auch gesagt. Aber Horatio, so feinfühlig er sein mag, ist eben nur ein Mann.«
»Das ist Unsinn«, versetzte Selene. »Glaubst du, Onkel Horatio fällt es nicht schwer, Annette gehen zu sehen, glaubst du, er hat keine Angst um sie? Da solltest du einmal Annette fragen, die seine Lamentos zu hören bekommt. Er findet eben nur, dass seine Angst ihm nicht das Recht gibt, Annette einzusperren. Sie ist zwar seine Tochter, aber nicht sein Besitz.«
»Ich weiß.« Leise und traurig lachte die Mutter auf. »Er hat mir dieselbe Predigt heute Nachmittag gehalten, und du hast recht. Ob jemand sein Kind als Vater oder als Mutter liebt, spielt keine Rolle. Dennoch hat mein Cousin Horatio leicht reden. Er kann sich nämlich sicher sein, dass seine Annette ihm bleibt, egal, wohin es sie verschlägt.«
»Aber das kannst du doch auch!«, sagte Selene. »Dass ich nach Belfast fahre, heißt doch nicht, dass ich euch hier vergesse.«
»Nein, natürlich nicht.« Das Lächeln rutschte ihr vom Gesicht. »Vergiss, was ich gesagt habe. Ich kann einfach nicht aus meiner Haut, und in der bin ich nur glücklich, wenn ich dich keine zehn Schritte weit von mir entfernt weiß. Aber Horatio hat mich heute an das erinnert, was ich mir geschworen hatte. Die Jungen müssen aufbrechen, hat er gesagt. Ohne unser Gepäck auf dem Rücken.«
Selene nahm sich vor, sich bei dem Onkel dafür zu revanchieren. Wusste er, wie bleiern ihr das Gepäck ihrer Familie zuweilen auf dem Rücken lastete, zumal sie nie sicher war, was in dem tonnenschweren Gepäckstück eigentlich verpackt war?
»Dieser Ingenieur, der dich eingeladen hat«, fuhr ihre Mutter fort, »der ist Deutscher, sagst du?«
»Erzähl mir nicht, das macht dir etwas aus.« Selene stöhnte. Der verstorbene König Edward hatte die deutschfeindliche Stimmung im Land geschürt und war nicht müde geworden zu versichern, Kaiser Wilhelm werde Europa demnächst in einen Krieg von nie da gewesenem Ausmaß stürzen. Übernahm ihre Mutter jetzt etwa die Ressentiments verblichener Monarchen?
»Nein, es macht mir nichts aus«, erwiderte ihre Mutter wenig überzeugend. »Ist er in England geboren?«
»Herrgott, ich will ihn nicht heiraten, Mutter! Die, um die es mir geht, ist in Irland geboren, sie heißt RMS Titanic und ist das größte Schiff der Welt. Thomas Lenz ist
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