Die Mondrose
angeboten, da dir Mount Othrys ja mehr am Herzen zu liegen scheint als das eigene Haus.«
»So ist es nicht«, warf Selene ein, brach aber ab, denn es war so. Mount Othrys mit all seinen veralteten Skurrilitäten war ihr Zuhause. Immer wieder hatte Großmutter Mildred ihr beteuert, dass es eines Tages ihr gehören würde, und auch wenn sie nichts damit anfangen konnte, würde es ihr weh tun, es zu verkaufen. Ihr Vater hingegen hoffte für sein Victoriana nicht auf die Tochter, sondern auf einen Schwiegersohn. Als Selene sich wieder setzte, trafen sich ihre Blicke. Sie war ungerecht. Immerhin hatte ihr Vater sie nie gezwungen, sich mit einem der Herren, die ihm passend schienen, abzugeben, wie andere Väter es taten. Er war ihr vielleicht mit wenig Wärme begegnet, alle Wärme, die er aufbrachte, gehörte ihrer Mutter, doch mit Respekt hatte er sie stets behandelt.
»Einerlei, wie es ist«, sagte er. »Von mir aus kannst du nach Mount Othrys gehen, wenn du dich dort wohler fühlst. Nur um eines bitte ich dich um deiner Mutter willen. Bleibe in Portsmouth. Sie hat nur dich. Mute ihr nicht zu, dass sie dich verlieren muss.«
»Sie verliert mich doch nicht!« Wieder einmal wünschte sich Selene, sie hätte einen Stall voll Geschwister gehabt, auf den die überbordende Liebe ihrer Mutter sich hätte aufteilen können. War es ihre Schuld, dass der Mutter mehr Kinder versagt geblieben waren, musste sie bis in alle Ewigkeit dafür bezahlen? »Alles, was ich will, ist, diesen Winter über in Belfast einer Arbeit nachzugehen. Was ist so schlimm daran? Unzählige Mädchen tun es, auch solche aus sogenannten guten Familien. Annette geht als Grabungshilfe auf eine Expedition nach Mexiko.«
»Was dein Onkel seiner Tochter gestattet, ist seine Angelegenheit«, erwiderte ihr Vater. »Es hat mit mir nichts zu tun.«
»Heißt das, du verbietest es mir?« Selene schossen Tränen in die Augen, was sie noch wütender machte. »Wozu reden wir dann noch um den heißen Brei herum? Ohne deine Einwilligung kann ich die Sache vergessen.«
»Ich dachte, es sei möglich, dich zur Vernunft zu bringen«, sagte er. »Auch im Frühling hast du ja aus Rücksicht auf deinen Großvater Einsicht gezeigt.«
»Den Großvater lasst endlich aus dem Spiel!«, brach es aus ihr heraus. »Ich habe mit ihm gesprochen, im Gegensatz zu euch besuche ich ihn nämlich, und er will, dass ich nach Belfast fahre.«
»Er bekommt doch gar nicht mit, was jemand zu ihm sagt.«
Selene wollte widersprechen, aber dann entschied sie sich anders und schwieg. Nichts an ihrer Familie zerrte so sehr an ihren Nerven wie die Geheimniskrämerei. Wie oft einer dem anderen etwas zuzischelte, das ein Dritter auf keinen Fall erfahren durfte, konnte sie nicht zählen. Und jetzt sollte offenbar kein Dritter erfahren, dass der Großvater des Hörens mächtig war. Nur wenn sonst niemand im Raum war, gab er ihr durch Zeichen Antwort. Sie hatte ihm erzählt, dass jener deutsche Ingenieur sich wieder gemeldet und sie noch einmal eingeladen hatte. Dass sie sich so sehr wünschte zu fahren und die Titanic zu sehen, dass sie im Frühling, nach dem Stapellauf des Schiffs, zurückkommen würde und dass in Belfast bestens für sie gesorgt war. Harland & Wolff beschäftigte zahlreiche Frauen, die in einem Wohnheim nahe dem Werftgelände untergebracht waren. All das hatte sie ihm erzählt, und am Ende hatte er genickt und seine Faust in ihre Hand gelegt.
Davor, dass er starb, während sie fort war, hatte sie keine Angst. Es würde kommen, wie der Onkel sagte. An etwas hielt er sich im Leben fest, und wenn er es irgendwann losließ, war es sein Wille zu sterben. Gewiss würde die Großmutter erneut versuchen sie zu manipulieren, die Großmutter konnte gar nicht anders, aber Selene, die sich schon als Kind darüber amüsiert hatte, würde ihr nicht noch einmal auf den Leim gehen.
»Selene?«
Sie fuhr zusammen und sah wieder ihren Vater an.
»Was wirst du also tun?«
»Stell es nicht dar, als hätte ich die Wahl!«, erwiderte sie patzig. »Wenn du es mir verbietest, kann ich gar nichts tun, wie du weißt. Als Mädchen habe ich auf meinen eigenen Willen ja kein Recht.«
Ihr Vater seufzte so tief, als säße ihm der Schmerz der Welt in der Kehle. Dann rückte er sich die Brille zurecht und sagte: »Das ist richtig, Selene. Du hast ja aber wohl deinen Onkel vorgeschickt, weil du weißt, dass sein Wort Gewicht bei deiner Mutter hat. Deine Mutter hat mich gebeten, dir die Reise nicht zu
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