Die Mondrose
einfach nur ein hilfsbereiter Mensch, den ich an der Universität getroffen habe und der mir ein bisschen unter die Arme greift.«
Ihre Mutter lachte. »Nicht zu sehr, hoffe ich, da du ihn doch nicht heiraten willst.«
Befreit lachte Selene mit. »Ach, Mutter, ich bin so froh, dass du einverstanden bist. Ich verspreche, ich passe auf mich auf wie ein Schießhund, lasse mir keinen Stahlträger auf den Kopf fallen, und wenn ich im Mai zurückkomme, kann ich fluchen wie ein Schustersohn.«
»Ich wette, der Schustersohn ist gegen dich ein Waisenkind«, erwiderte ihre Mutter und berührte flüchtig ihre Wange. »Du hast das Fluchen schließlich von Mildred gelernt.«
Wie ein Fohlen, das seiner Lebensfreude kaum Herr wurde, sprang ihre Tochter davon. Esther blieb sitzen und sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Dass sie selbst einmal so strotzend vor Zuversicht ihrer Zukunft entgegengerannt war, erschien nicht mehr wirklich. Schwerfällig wandte sie sich ab und starrte wieder in den Garten, über dem das letzte Licht des Tages verlosch.
Die Jahre des Glücks waren vorüber. Sie hatte es vorhin begriffen, sie begriff es jetzt noch einmal und erfasste damit auch, wie berauschend dieses Glück gewesen war. Was immer sie vom Leben gewollt hatte, sie hätte es gegen das, was sie bekommen hatte, nicht getauscht – die überwältigende, geradezu blödsinnige Seligkeit, als sie das so heiß ersehnte Kind zum ersten Mal in den Armen hielt. Die Intensität eines jeden Tages, an dem sie Selene zuschauen durfte, während sie ihre Welt entdeckte, ein brandneues Geschöpf auf einem brandneuen Weg, eine frische Idee, revolutionärer und kühner als jede Erfindung. Sie hätte nichts, das sie sich einst gewünscht hatte, gegen die Nächte getauscht, wenn ihr Kind voll Angst aus dem Schlaf schreckte, nach ihr rief und sich von ihr trösten ließ: Lavendel ist grün, dilly dilly, Lavendel ist blau.
Das Lachen in ihrem dunklen Haus, die Abende mit Spiel und Musik und die leuchtenden Sommer am Strand hätte sie gegen nichts auf der Welt getauscht.
Aber die Jahre waren vorbei. »Wir haben diese Kinder nur geborgt, Esther«, hatte Horatio gesagt. »Sie müssen ihr eigenes Glück suchen dürfen. Für unseres haben sie lange genug gesorgt, und dass wir zu dumm waren, es selbst zu tun, ist nicht ihre Schuld.«
Ach, Horatio. Hätte er es nicht so gehasst, berührt zu werden, hätte sie ihm die Wange gestreichelt. Er war immer für sie da, trotz seiner eigenen Last, und was er sagte, besaß Hand und Fuß, und doch traf es zu – er hatte leicht reden. Seine Tochter, die seine schönen Augen geerbt hatte, war ihm so gewiss wie sein eigener Atem. Zwar fürchtete er, dass Annette sich mit einer Tropenkrankheit ansteckte oder Banditen in die Hände fiel, aber dass er seinen Platz in ihrem Herzen verlor, brauchte er nie zu fürchten. Esther hingegen fürchtete keine Stahlträger, die Selene auf den Kopf fallen könnten, sondern den Augenblick, von dem sie seit zwanzig Jahren wusste, dass er ihr bevorstand – das Ende.
Auf seine stille Weise trat ihr Mann in den Raum. »Du hast ja kein Licht gemacht«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Danke, Andrew«, murmelte sie.
»Wofür?«
»Dafür, dass du Selene gehen lässt.«
Er trat hinter sie, sein Blick wie ihrer auf den dunklen Garten mit den Mondrosen gerichtet. »Du hast mir zweimal gedankt«, sagte er. »Einmal dafür, dass Selene kam, und einmal dafür, dass sie geht. Viel ist das nicht in einem Vierteljahrhundert Ehe, aber wie üblich bescheide ich mich. Danke, dass du mir erlaubst, dich zu lieben, Esther.«
Gedämpfte Stimmen drangen Annette entgegen, als sie aus dem Windfang in die Halle trat. Seit ihre Mutter keine Treppen mehr bewältigen konnte, hatte ihr Vater ihr ein Schlafzimmer zu ebener Erde einrichten lassen, damit sie am Familienleben teilnehmen konnte. Es war eine liebevolle Geste, obgleich ihre Mutter auch vor ihrer Erkrankung am Familienleben nicht teilgenommen hatte. Das Familienleben waren immer sie beide gewesen – ihr Vater und sie.
Dass sie um dieses Leben beneidet wurde, wusste sie und tat nichts, um dem abzuhelfen. Annette gefiel es, die verwöhnte höhere Tochter zu spielen, die auf der Welt keine Sorgen kannte. Was sich tatsächlich hinter den Wänden des lichtdurchfluteten Hauses, zwischen dem Meer und dem Elektrizitätswerk abspielte, ging keinen etwas an. Darin wie in so vielem folgte Annette dem Vorbild ihres Vaters, dessen Maske aus Charisma von
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