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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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versauern. Gehst du den Großvater holen?«
    Sie nickte, machte aber keinen Schritt. »Hast du die Frau geliebt?«, fragte sie ihn. »Die, die dich verlassen hat, weil Mutter ein Kind bekam?«
    Ihr Vater sandte ihr das Lächeln, von dem ihre Freundinnen schwärmten, weil sie nicht wussten, dass es der Riegel war, der ihn verschloss. »Das, mein geliebtes Kind, geht dich nichts an.«
    Annette lief aus dem Haus und bemerkte jäh, wie schön sie es fand, weil es weit und hell und nicht vollgestellt mit zu schweren Möbeln war, weil es keinen bombastischen Namen trug, sondern Planet Earth hieß, und weil ihre Familie darin wohnte. Sie war dankbar für den Regen, der einsetzte. Im Regen fühlte Weinen sich selbst für Ungeübte natürlich an.

Kapitel 51
    Belfast, 1911
    N och immer ließ sich Selene, wenn sie morgens in die Werkhalle trat, Zeit, um innezuhalten und zu staunen. Seite an Seite lagen die beiden Schwestern auf ihren eigens errichteten Rampen. Sie nahmen Platz ein, der für drei Schiffe gewöhnlicher Größe gedacht war, für die beiden Gigantinnen jedoch gerade ausreichte. Die Olympic zur Hälfte grau, die Titanic nachtschwarz, ragten sie bis an den riesigen Portalkran, von dem achtzehn Einzelkräne und ein Drehkran Baumaterial in die Tiefe beförderten. Auf den Gerüsten klebten die Arbeiter wie winzige Käfer, die sich im Kriechtempo den Schiffsleib hinauf- und hinunterbewegten. Der Anblick ließ Selene sich klein fühlen, aber es war ein beflügelndes Kleinfühlen, weil sie Teil von etwas Großem war, das dieses Wunder geschaffen hatte.
    Die Olympic war fraglos ein Wunderwerk der Technik. Aber die Titanic war mehr. Ihr Name ein verstiegenes Flüstern, ein Griff nach den Sternen. Man sah sie an und wusste: Davon erzähle ich in Gott weiß wie viel Jahren meinen Nachkommen. Ich war hier im Jahre 1911. Ich habe die Titanic berührt.
    Dass das Schiff ihre kühnsten Träume übertraf, hatte sie über manches hinwegtrösten müssen, denn das Leben, das sie im vergangenen Herbst hier erwartet hatte, war härter, als sie sich hätte ausmalen können. Nicht weil die Arbeit ihr schwerfiel, weil sie es nicht gewohnt war, ihren Schlafraum mit einem halben Dutzend Frauen zu teilen, die furzten, sich rauften und einander die Haare ausrissen, oder weil die Männer auf der Werft sie nicht für voll nahmen, sondern weil sie zum ersten Mal erlebte, was Einsamkeit hieß. Sie hatte geglaubt, sie sei gern allein. Aber wer allein war, weil er die Wahl hatte, der war überhaupt nicht allein.
    Anfangs war alles gewesen, wie es schöner nicht hätte sein können. Thomas hatte sie von der Fähre abgeholt, und in ihrer Erinnerung hatten sie sich tagelang nicht getrennt. Noch vom Fährhafen aus, in tiefem Dunkel, war er mit ihr zur Titanic gefahren, in die menschenleere Halle, in der Glas und Metall durch die Nacht glitzerten und im Schweigen etwas vom Universum, von der Ewigkeit hallte. »Darf ich Sie einander vorstellen? My lady Titanic und my lady Selene. Zwei Mondrosen, vor denen die Götter des Olymp sich neigen.«
    Sie würde die Nacht, in der er mit ihr am Fuß der Titanic gestanden hatte, nie vergessen. Sie hatte nicht geplant, sich in Thomas Lenz zu verlieben, sie hatte überhaupt nicht geplant, sich zu verlieben, weil Frauen, die sich verliebten, wohl kaum hinterher Schiffe bauten, aber mit Thomas war es anders. Nicht so, wie ihre Freundinnen es taten, die darüber die Welt vergaßen. RMS Titanic gehörte doch von Anfang an dazu und war aus ihrem Bund nicht wegzudenken. In jener ersten Zeit mit Thomas war alles einfach gewesen, und Selene hatte geglaubt, sie sei in den Topf gefallen, in dem die Götter das Glück aufbewahrten.
    Sie war nicht ins Wohnheim gezogen. Thomas hatte sie in der Wohnung eines Kollegen untergebracht, die im selben Haus wie die seine lag. Er hatte sie auch nicht zu den Arbeitern in die Halle geschickt, sondern sie zu Sitzungen des Ingenieursstabs mitgenommen, sich mit ihr tage- und nächtelang über Pläne gebeugt und ihr die Türen zu immer neuen Kammern voller Wunder geöffnet. Sie redeten, wie sie im Frühling in Portsmouth geredet hatten, ohne innezuhalten, ohne müde zu werden. Sie erkundeten jeden Winkel der Werft, zeichneten Traumschiffe und errichteten Modelle. Irgendwann küssten sie sich. Es war so erregend wie die Nähe von RMS Titanic und ebenso selbstverständlich. Sie gehörten zusammen. Das Leben war schön und leicht.
    Gerade als sie aufhörte zu glauben, das Glück müsse enden,

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