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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Mann wieder heiraten würde, wenn sie ihm keine Last mehr war? Der Gedanke musste unendlich weh tun. Annette war sicher, der Vater würde, wenn die Mutter gestorben war, nicht wieder heiraten, sondern allein bleiben. Mit Menschen zusammen zu sein strengte ihn an, auch wenn er es niemanden merken ließ.
    Wieder hob die Mutter die Hand und strich dem Vater über die Lippen. »Ich muss es dir sagen«, krächzte sie. »Es liegt zu schwer auf mir, ich kann damit nicht sterben. Ich habe gar kein Kind erwartet, damals. Weißt du noch, wie ich dich angefleht habe, mir Annette zu machen, damit ich den schweren Verlust verschmerzen konnte? Aber es gab ja keinen Verlust. Dein Vater hat es mir gesagt. Er ist zu mir gekommen und hat mir erklärt, was ich tun muss, wenn ich dich für mich haben will. Sollten Sie ein Kind von ihm bekommen, lässt seine Frau sich scheiden, hat er gesagt. Sie ist eine von diesen Frauenrechtlerinnen. Sie wird ihm nicht erlauben, eine Schwangere im Stich zu lassen.«
    Annette, die mit Selene Pie and Mash gegessen hatte, wurde übel. Sie hätte ins Bad laufen und den ganzen Brei aus Fleisch und Kartoffeln erbrechen mögen, aber sie konnte sich nicht von der Stelle rühren und den Blick nicht von ihren Eltern wenden. Der immens gerade Rücken ihres Vaters rührte sich nicht. Die Hand ihrer Mutter fuhr zitternd weiter über sein Gesicht. Aus ihrem Mundwinkel rann ein wenig Blut, was häufig geschah, weil ihr Zahnfleisch wund war. Es war wohl das Blut, das seine Starre löste. Er zog ein Tuch aus der Tasche und tupfte es ihr ab.
    »Hasst du mich jetzt?«, fragte sie.
    Er nahm die Schnabeltasse und wollte ihr zu trinken geben, aber sie drehte sich weg. Ihr Gesicht sah aus wie farbloses Wachs. »Sprich mit mir, Horatio, ich bitte dich.«
    »Das ist alles dummes Zeug«, sagte er. »Es spielt keine Rolle.«
    »Aber du musst dir doch wünschen, die Zeit zurückzudrehen.«
    »Ich bin Physiker. Ich wünsche mir keinen Unsinn, der nicht funktioniert. Wie kannst du denn glauben, ich würde unser Leben mit Annette zurückdrehen wollen, um ein anderes anzufangen, von dem ich nichts weiß? Jetzt ist Schluss damit, ja? Willst du noch einmal versuchen zu essen? Oder wenigstens Wasser zu trinken?«
    »Nein, Lieber«, antwortete sie. »Ich will, dass du mir verzeihst, und danach will ich sterben.«
    Er überlegte. »Verzeih du mir auch, Hedwig«, sagte er dann und nahm ihre Hand. Sie lächelte ihm zu und nickte. Er blieb bei ihr, ohne sich zu rühren, bis sie eingeschlafen war. Als er hörte, dass sie ruhiger atmete, erhob er sich und breitete Decken über sie, weil ihr Körper nie mehr warm wurde. Annette hätte sich aus der Tür stehlen können, aber dafür hätte sie sich noch mehr geschämt. Er drehte sich um und sah sie. Sein Gesicht war schweißbedeckt, er wischte es trocken, doch die Stirn hinunter lief ein neues Rinnsal. Lautlos verließ er den Raum und schloss die Tür.
    »Es tut mir leid«, sagte Annette.
    »Ach was«, entgegnete ihr Vater. »Du musst von nun an eben mit dem, was du gehört hast, leben. Wenn du dich jetzt damit quälst, dass ich dich nicht wollte, kann ich dir nur versichern: Ich wollte dich von dem Augenblick an, in dem du in die Welt kamst. Was immer wir nicht tun, deine Mutter und ich – wir lieben dich.«
    »O nein!« Sie warf die Arme um ihn, drückte ihm einen Kuss auf den Hals und gab ihn wieder frei. »Das quält mich nicht. Wenn irgendein Mensch von seinem Vater geliebt wird, dann ich. Aber du nicht …«
    Er schüttelte den Kopf. »Das steht nicht zur Debatte. Ist alles in Ordnung bei Selene? Musst du noch einmal zu ihr?«
    »Nein, sie ist glücklich wie der Mops im Paletot.«
    »Sehr schön. Dann sei so gut und geh deinen Großvater holen. Es ist besser, wenn wir keine Zeit verlieren. Kannst du das tun?«
    Ihr Großvater sprach mit ihrem Vater kein Wort. Zum ersten Mal hatte Annette eine Ahnung von den Gründen. »Natürlich«, sagte sie.
    »Wir muten dir ziemlich viel zu.«
    »Nein, das tut ihr nicht.«
    »Noch vier Wochen, dann bist du in Mexiko.«
    »Wenn die Mutter stirbt, bleibe ich hier.«
    »Annette«, sagte ihr Vater, »ich bin kein Arzt, aber ich glaube, die Mutter stirbt heute Nacht. Wenn du willst, solltest du hinterher trotzdem fahren.«
    »Und dich allein lassen?«
    Er rieb sich die Stirn. »Ich bin einundfünfzig Jahre alt, mein Herz. Und ans Alleinsein gewöhne ich mich besser schnell, denn das schönste Mädchen von Hampshire wird wohl kaum bei ihrem alten Vater

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