Die Mondrose
endete es. Nicht auf einen Schlag, sondern schleichend. Zuerst kam der Kollege zurück, und Selene zog aus der bequemen Wohnung in das mit Menschen vollgestopfte Wohnheim um. Dann gab es auf einmal Sitzungen, zu denen Thomas sie nicht mitnehmen durfte, Arbeit, die ihn aufhielt, und Fragen, auf die er keine Antwort gab. Wenn sie ihn darauf ansprach, tat er ihre Sorge ab, doch sie spürte bar jeden Zweifels, dass er sich ihr entzog.
Da er sie von seiner Tätigkeit ausschloss, entschied sie sich, mit der Arbeit auf der Werft zu beginnen, um nicht tatenlos auf ihrer öden Bettstelle zu kauern. Zu ihrer Bestürzung musste sie feststellen, dass die Männer sie unter sich nicht wollten, obwohl sie sich für keine Tätigkeit zu gut war. Sie durfte auf kein Gerüst steigen und kam nicht einmal in die Nähe des Schiffs, sondern wurde zur Wartung von Kleinwerkzeug geschickt. Es dauerte Tage, bis sie Thomas zu fassen bekam und ihn um Hilfe bitten konnte.
Er hörte sich ihre Klagen an, trommelte dabei verstohlen auf die Tischplatte und sagte, als sie geendet hatte: »Selene, wenn die Gegebenheiten hier nicht dem entsprechen, was du dir vorgestellt hast, helfe ich dir selbstverständlich, einen Fährplatz nach Hause zu buchen.«
»Das ist doch lächerlich«, machte sie sich Luft. »Du bist seit Wochen mit mir zusammen, du weißt, dass ich das alles hier liebe und dass ich der Arbeit gewachsen bin. Ich will nicht nach Hause. Ich will, dass du mir einen Rat gibst, wie ich die Arbeiter für mich gewinnen kann …« Sie stockte nur kurz, dann warf sie den Rest hinterher: »Und dass du mir sagst, was eigentlich passiert ist und warum du plötzlich ein solcher Stoffel bist.«
Nachdem er wochenlang an ihr vorbeigesehen hatte, sah er sie jetzt wieder an. Sie mochte seinen Blick, die hellen Augen, in denen Lebenslust und Humor blitzten, und war erleichtert, ihn wiederzuhaben. Sachte schloss er die Hand wie eine Muschel um ihre Wange und zog sie dann, als hätte er sich verbrannt, wieder fort. »Nichts ist passiert«, sagte er. »Nur die Arbeit schlaucht mich. Alles muss doppelt so schnell wie bei normalen Schiffen gehen, und obendrein muss es auch noch perfekt sein. Ich bin einfach angespannt. Hab Geduld mit mir, ja?«
Seine Erklärung schien ihr einleuchtend, und dass sie, als Gott die Geduld verteilt hatte, beim Schwimmen gewesen war, sagte sie ihm nicht. Sie wollte ein vernünftiges Mädchen sein, das ihrem Liebsten keinen zusätzlichen Ärger aufhalste, sondern seine Probleme allein anpackte. Behauptete Großmutter Mildred nicht, sie sei das einzige Mitglied der Familie, das nach ihr geraten sei? Sie würde dem Erbe Ehre machen, auch wenn Mildred nicht einmal ihre leibliche Großmutter, sondern nur deren Schwester war.
Aber Selenes Probleme ließen sich nicht anpacken, sie glitten ihr wie Aale aus den Fingern. Die Männer fuhren fort, sie zu schneiden, und Thomas war für sie kaum noch zu sprechen. Sie verbrachte eine entsetzliche Weihnacht im Wohnheim und eine noch schlimmere Neujahrsnacht. Umringt von feiernden Menschen lernte sie den Geschmack der Einsamkeit kennen, und der war so bitter, dass sie bald nichts anderes mehr schmeckte. Jeden Morgen, wenn sie vor Titanics erhabener Schönheit stand, nahm sie sich vor, nicht klein beizugeben, und jeden Abend, wenn sie sich in ihre scheußliche Unterkunft schleppte, war sie sicher, es nicht länger zu ertragen. Weshalb sprach kein Mensch mit ihr, weshalb gab es niemanden zum Lachen, weshalb sandte ihr keiner auch nur einen freundlichen Blick? Es war die Hölle. Bis Harry kam.
Schon in gewöhnlichen Zeiten waren auf der Werft von Harland & Wolff mehr als sechstausend Arbeiter beschäftigt, doch für die Schiffe der White Star Line war die Anzahl noch einmal verdoppelt worden. Es war unmöglich, einem jeden begegnet zu sein. Harry war sie nie begegnet, obwohl er von der Kiellegung an auf der Titanic gearbeitet hatte. Als Hilfsarbeiter ohne Erfahrung war er angeheuert worden und hatte es seither zum Vorarbeiter einer zwölfköpfigen Einheit gebracht. Harry sprach wenig, doch was er sagte, hatte Gewicht. Sein Ansehen verdankte er der Tatsache, dass er ohne Wenn und Aber seine Arbeit tat und dass er darin unschlagbar war.
Selene lernte ihn kennen, als sie einen elenden Tag lang Schweißlatten vom Fuß eines Hebekrans zum nächsten geschleppt hatte, nur um dort zu erfahren, dass die schweren Latten wieder zurückbeordert wurden. Gelegentlich, wenn trübe Stimmung herrschte, dachte sich
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