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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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einer der Männer eine solche Schikane für sie aus. Harry stand achtern auf dem Gerüst, drei Mannslängen über dem Boden, und prüfte eine Vernietung. Selene, der der Schweiß in Strömen lief, kam zu keinem Blick in die Höhe und hätte selbst dann vermutlich Harry nicht bemerkt. Harry aber bemerkte sie. Eine Weile sah er sich das Schauspiel an, dann griff er ein. »He, Joe«, rief er zu dem Mann am Hebekran hinunter. »Lass das Mädchen in Frieden.«
    Der Mann sah hinauf zu Harry, dann zweifelnd auf Selene und dann noch einmal hinauf. »Was soll ich denn mit der anfangen, Harry?«, brüllte er. »Da hat uns einer von oben sein Flittchen aufs Auge gedrückt.«
    »Du fängst mit ihr nichts an«, erwiderte Harry und begann flink am Gerüst hinunterzusteigen. »Mach deine Arbeit, um das Mädchen kümmere ich mich.«
    Einen mächtigen Sprung und ein paar Schritte später stand er vor Selene. »Ich bin Harry«, sagte er.
    Sie mochte ihn auf den ersten Blick. Er war verdreckt und verschwitzt wie sie alle, aber unter der Schmiere, die sein Gesicht bedeckte, fand sie ihn regelrecht schön. Er hatte helle Augen und silbriges Haar, das ihm weich ins Gesicht fiel. Sein Lächeln grub ihm Furchen in die Wangen, und seine Stirn teilte eine Falte, als litte er Schmerz. Er war kein großer Mann, sondern beinahe zierlich, doch jeder Muskel an seinem drahtigen Körper war ein Strang aus Stahl. Scheu streckte er Selene die Hand hin, die sie dankbar packte. »Ich bin Selene.«
    Eine Bewegung strich über sein Gesicht. »Die Göttin des Mondes, die ihrem Liebsten den ewigen Schlaf schenkte, damit seine Schönheit unangetastet blieb?«
    Vor Verblüffung trat Selene einen Schritt zurück. Alles mochte sie bei einem Werftarbeiter erwartet haben, aber nicht, dass er sich mit antiker Mythologie auskannte.
    Wie in traurigen Gedanken verzog Harry den Mund. »Haben Sie Hesiod gelesen? ›In den Abgrund, in ewiges Dunkel wurden die Titanen geschleudert, in schmerzende Ketten geschmiedet, in den Nebeln der Unterwelt …‹ Zerreißt es einem dabei nicht das Herz?«
    Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Harry sie überraschte.
    Mit ihm änderte sich Selenes Leben auf der Werft. Er nahm sie unter seine Fittiche, teilte sie persönlich zu Aufgaben ein und stieg mit ihr aufs Gerüst. Er besorgte ihr Kleidung, wie auch die Männer sie trugen, grobe Hemden und Hosen, lehrte sie den Umgang mit Nietenzieher und Köppelmacher und sorgte dafür, dass die Arbeit ihr schwielige Hände, Erschöpfung und Erfüllung bescherte. Abends war sie jetzt so entkräftet, dass sie einschlief, sobald ihr Kopf das Kissen berührte, und der Lärm sie nicht länger störte. Seit die Männer wussten, dass sie unter Harrys Schutz stand, ließen sie sie in Ruhe. Einzelne begannen sie des Morgens zu grüßen. Und gegen die Einsamkeit halfen Abende mit Harry.
    Er lud sie zum Essen ein. Selene verfügte über viel mehr Geld als er, weil ihr Vater regelmäßig Wechsel schickte, es widerstrebte ihr, Harry bezahlen zu lassen, aber er bestand darauf. Sie gingen in eine Kaschemme am Fluss, in der es starkes Bier und guten Fisch gab, er stellte scheue Fragen und hörte ihr zu. Ihr kam es vor, als hätte er ihr einen Pfropfen aus der Kehle gezogen – wie lange schon hatte kein Mensch mehr ihr eine Frage gestellt! Binnen Tagen, so schien es, hatte sie ihm ihr gesamtes Leben erzählt. Erst als sie das dritte Mal miteinander ausgingen, fiel ihr auf, dass er nun alles von ihr wusste und sie nichts von ihm.
    Überhaupt nichts. Weder sein Alter noch die Stadt, aus der er stammte, nicht, ob er Familie hatte und was auf ihn wartete. Nur dass er Harry Matthew hieß und ihr rettender Engel war. Ihn zu fragen half nicht. Er lächelte, gab nichtssagend Antwort und richtete dann neuerlich eine Frage an sie. Immerhin erfuhr sie, dass er wie sie aus Englands Süden kam und mehr als zwanzig Jahre älter war als sie. Es hätten auch dreißig Jahre sein können. Seinem zerfurchten Gesicht war anzusehen, dass das Leben ihn nicht verschont, sondern schmerzhafte Spuren hinterlassen hatte, und doch war etwas um ihn, eine Art von Unschuld, die Selene nur von Kindern kannte.
    »Sprechen wir nicht von mir«, pflegte er zu sagen, »von Ihnen zu sprechen ist schöner.« Selenes Neugier begehrte auf, doch bald sah sie ein, dass es sinnlos war, und hielt sich an seine Maxime.
    Seit Harry da war, verging die Zeit im Flug. Belfast blieb auch im Frühling grau, doch die Abende am Fluss wurden wärmer und

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