Die Mondrose
zwischen ihnen nichts als Kameradschaft gegeben, standen sie alle am Morgen des 31. Mai am Ufer des Flusses Lagan und sahen zu, wie die Titanic von Schleppern hinaus auf den Fluss und in ihr Bassin gezogen wurde, wo ihr kühler, blanker Leib zum Leben erweckt werden sollte. Motoren, Boiler und Turbinen harrten der Installation, und anschließend würde ein Heer von Zimmerleuten sich an die Innenausstattung machen, bis das Schiff einem schwimmenden Palast glich. Selene war entschlossen, sich vor den Männern keine Blöße zu geben. Als sie aber das Schiff, das viel zu groß war, um zu entschwinden, über die schwarze Wasserfläche davongleiten sah, ballten sich die Tränen hinter ihren Augäpfeln, wie um sie aus den Höhlen zu pressen.
In ihrem Rücken spürte sie Harrys Arm. »Du willst sie doch gar nicht verlassen«, sagte er. »Nicht bevor sie bereit ist, ohne uns ihren Weg zu machen. Bleib hier, Selene. An den Turbinenschäften kann die Werft noch jede Menge Leute gebrauchen.« Als sie herumfuhr, um ihn zu umarmen, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Noch am selben Abend ging er mit ihr ins Personalbüro und sorgte dafür, dass ihr Vertrag bis Anfang Februar, wenn die Titanic zu einem letzten Anstrich aufs Trockendock überführt werden sollte, verlängert wurde. Der Lohn, den man ihr bot, war lachhaft, und an ihre Mutter mochte sie nicht denken, aber nichts davon schmälerte ihren Triumph. Sie hatte sich ihren Platz erkämpft. Sie würde bei RMS Titanic bleiben, bis sie ihren Siegeszug um die Welt antrat.
In ihrer Kaschemme am Fluss, wo sie ihre Entscheidung feierten, fragte sie Harry: »Für dich ist sie auch nicht nur eine Arbeit wie andere, nicht wahr? Du liebst sie so sehr wie ich.«
Harrys Lächeln war traurig. »Das kann ich ja nicht. Ein Schiff so lieben kannst nur du, weil du jung bist und noch nie einen Menschen geliebt und verloren hast.«
»Harry, ich bitte dich!« Selene stöhnte. »Nicht wieder diese düsteren Andeutungen, davon habe ich daheim in Portsmouth genug. Außerdem habe ich dir beim Stapellauf angemerkt, dass sie mehr als irgendein Schiff für dich ist.«
»Ja«, gab er zu, »das ist sie. Sie tut mir leid, obwohl sie ein Ding ist, aber wenn so viele Menschen ihre Liebe hineingeben, hat wohl auch ein Ding eine Seele.«
»Und warum tut sie dir leid?«
»Weil alle Wunder von ihr erwarten. Diese Zeit, die zu Ende geht, bäumt sich ein letztes Mal auf und will beweisen, dass sie noch immer auf der Höhe ist. Aber um das zu verstehen, bist du zu jung. Mir tut die Titanic leid, weil sie die Last von Legenden auf dem Rücken trägt und vielleicht nur ein Schiff sein möchte, das in einen stillen Morgen fährt.«
Selene nahm seine Hand und drückte sie. Was er gesagt hatte, schrieb sie auf, auch wenn sie nicht sicher war, es zu verstehen.
Als sie ein paar Tage später nach Arbeitsschluss aus der Werkhalle trat, stand ein Mann mit einem Seesack am Tor und wartete auf sie. Es war Thomas. »Ich muss dich sprechen.«
Sie hatte nicht mehr an ihn denken, sondern sich einreden wollen, sie hätte an Harry und der Titanic genug, aber jetzt erwachte ihre Wut. »Weshalb glaubst du eigentlich, ich hätte Zeit, wann immer es dir passt, auch wenn du auf Monate keine hast?«
»Sei nicht kindisch, Selene«, sagte er und griff nach ihrem Arm. »Darüber hatten wir doch gesprochen.«
Schroff befreite sie sich. »Wie auch immer, heute habe ich jedenfalls keine Zeit.«
»Und warum nicht?« Er vertrat ihr den Weg. »Führt dich dein Hilfsarbeiter aus, kannst du keinen Abend ohne ihn ertragen?«
»Und wenn?«, fragte Selene spitz. »Gibt es vielleicht etwas, das du dagegen haben könntest?«
»O ja«, antwortete er, und dann tat er etwas, das sie entwaffnete, weil sie nicht im mindesten damit gerechnet hatte. Er riss sie in die Arme, küsste sie und sagte: »Ich liebe dich.«
Ehe sie beschloss, ihn nicht zu küssen, hatte sie es schon getan. »Du bist ja verrückt«, rief sie aus. »Erst bekomme ich eine Ewigkeit nicht mal einen Gruß von dir, und dann lauerst du mir auf wie ein Verschwörer und erklärst mir, du liebst mich? Das ist mir zu viel Wellengang, Thomas. Davon werde ich seekrank.«
Reumütig senkte er den Kopf, was ihren Widerstand schwächte. »Es tut mir leid, Titanin. Ich habe versucht, es dir zu erklären.«
»Aber du warst nicht überzeugend. Und auch wenn man den Deutschen raue Manieren nachsagt, müsste dir klar sein, dass deine Liebeserklärung ein bisschen viel von einem Schuss vor
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