Die Mondrose
länger hell. Von Annette erhielt sie einen Brief aus Mexiko, der wochenlang unterwegs gewesen war. Ihr Gewissen packte sie. Annettes Mutter war am Tag vor ihrer Abreise gestorben. Weder Annette noch der Onkel hatten es Selene gesagt, damit sie unbesorgt reisen konnte, und jetzt lag ihr Tod schon Monate zurück, und Selene hatte den beiden nicht einmal ihr Beileid ausgesprochen. Annette hatte ihrer Mutter, die schon vor ihrer Erkrankung an allerlei Unpässlichkeiten gelitten und ihr Haus nie verlassen hatte, nicht nahegestanden. Was aber war mit ihrem Vater? Über den Onkel wurde gemunkelt, er sei zu schön, um treu zu sein. In seiner Jugend sollte er seine eigene Tante verführt haben, eine rassige Italienerin, die mit dem Port Admiral verheiratet war. Als er sie verließ, fuhr die Italienerin nach Bristol und stürzte sich von Brunels Clifton Suspension Bridge.
Selene hielt das alles für leeren Tratsch. Trotz seines piratenhaften Charmes und des abenteuerlichen Äußeren war der Onkel solide wie Spannstahl. Er hielt Vorlesungen in Portsmouth wie in Southampton, gehörte der Aufsicht des Elektrizitätswerks an, entwickelte Schottensysteme und saß in so vielen Gremien und Vereinigungen, dass sein Tag die doppelte Anzahl von Stunden brauchte. Darüber hinaus gab es für ihn nur seine Familie – Annette, die er vergötterte, und seine Frau, die er getreulich pflegte. Selene und ihre Mutter, der er mehr Bruder als Cousin war, und seine Schwester, die als Suffragette in London lebte. War eine von ihnen jetzt bei ihm oder war er allein in seinem schönen Haus?
Annette, die in einem Ort namens Teotihuacán Aztekenpyramiden aus sich schlingenden Urwaldpflanzen schälte, äußerte in ihrem Brief dieselbe Sorge. »Wenn Dein Mr Lenz und Deine Lady Titanic Dir Zeit lassen, könntest Du Dich erbarmen und Vater ein paar Zeilen schreiben? Wenn ich daran denke, wie er Mutters Decken in den Schrank geräumt und ihre Matratze aus dem Haus getragen hat, zerreißt es mir das Herz. Er sagt, es macht ihm nichts aus, allein zu sein, er hasst Partys und hat Arbeit genug, aber auch wenn das zutrifft, erzählt ein Teil von ihm Lügen. Irgendwo auf der Welt gibt es einen Menschen, den er finden möchte, aber nicht finden kann, weil er nicht sucht und mit niemandem darüber spricht.
Sei lieb und schreib ihm. Ich wünschte, er würde wenigstens zu seiner Schwester nach London fahren, aber das tut er ja nie. Dabei könnte die Arme sicher auch Trost gebrauchen. Habt ihr in Irland eigentlich davon gehört? Die Gesetzesinitiative, nach der verheiratete Frauen über dreißig hätten wählen dürfen, ist wieder gescheitert. Nun wird es von neuem Straßenkämpfe und Verhaftungen geben, und das, wo die Tante so gern ein friedliches Leben führen würde. Aber genug von meinem Völkchen – wie geht es Dir, was treibst Du, hat man Dich schon zur Galionsfigur von RMS Titanic ernannt? Und was gibt es Neues von Mr Lenz? Sag mir nicht, Du starrst noch immer unentwegt Schiffsleiber an und keinen einzigen Moment lang einem schönen Mann in Sternenaugen …«
Selene sprach mit Harry darüber. »Ich verdanke meinem Onkel so viel«, sagte sie. »Wann immer meine Mutter mir mit ihrer Fürsorge die Luft abdrückte, ist er für mich in die Bresche gesprungen. Er ist mit mir in die Docks gegangen und hat mir gezeigt, wie eine Schiffsschraube funktioniert. Wenn das wahr ist, was Annette schreibt, will ich ihm unbedingt helfen.«
»Wenn was wahr ist?«, fragte Harry.
»Wenn er sich wünscht, einen Menschen zu finden. Ich will diesen Menschen für ihn suchen.«
»Das darfst du nicht«, fuhr ihr Harry so scharf ins Wort, wie er noch nie mit ihr gesprochen hatte. »Wenn dein Onkel diesen Menschen nicht sucht, wird er Gründe haben.«
»Was denn für Gründe?«
»Du kannst deinem Schicksal danken, wenn du dafür keine Gründe weißt«, sagte er.
Selene fand, er klang wie Großmutter Mildred, wenn sie den Untergang der Welt beschwor, ohne je Ross und Reiter zu nennen. Es war der erste Abend, der zwischen ihnen in Streit endete, weil sie ihm vorwarf, in Rätseln zu sprechen, während sie ein offenes Buch für ihn war. Tage später vertrugen sie sich wieder und redeten nicht mehr von Menschen, die man finden wollte, ohne sie zu suchen. Der Tag des Stapellaufs rückte näher, Erregung verbreitete sich in der Werkhalle wie Frühlingsduft zwischen Gestank nach Teer und Öl. Selene vergaß, dass sie dem Onkel hatte schreiben wollen.
Wie eine Einheit, als hätte es
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