Die Mondrose
flüsterte sie in die Sprechmuschel. »Sind sie …«
»Ich weiß es nicht. Niemand kann derzeit eine Auskunft geben, aber ich werde alles tun, um es herauszufinden. Wir sagen es Esther erst, wenn wir Bescheid wissen, ja?«
Lydia gab keine Antwort. Die Vorstellung, Esther sagen zu müssen, dass ihre Tochter im eisigen Meer ertrunken war, raubte ihr die Stimme.
»Lydia?«, fragte Horatio. »Kannst du wie immer die tapferste Frau der Welt sein und das Vernünftige tun? Ich gehe jetzt zum Büro der White Star Line und sehe zu, was ich in Erfahrung bringen kann. Ich versuche auch Andrew aufzutreiben, der irgendwo Lieferanten trifft. Kannst du bei Esther bleiben und dafür sorgen, dass sie auf keinen Fall das Haus verlässt? Es sind schon Geier mit Extrablättern unterwegs, von denen soll sie es auf keinen Fall erfahren. Irgendwer wird zu Mildred fahren müssen, aber Annette betreut noch immer ihren Großvater …«
»He«, unterbrach sie ihn, »hol Atem, ja? Kümmere du dich um die White Star Line und Andrew, damit hast du genug. Ich besorge einen geschlossenen Wagen, lade Esther direkt vor der Haustür ein und fahre mit ihr zu Mildred, ohne dass sie auch nur einen Blick aus dem Fenster wirft, einverstanden?«
Jetzt war es an ihm zu schweigen. Erst als sie schon glaubte, die Leitung sei unterbrochen, sagte er: »Ich liebe dich, Lydia. Ich liebe dich und Annette so sehr, ich kann an das, was Esther durchmacht, nicht einmal denken.«
»Bleib nicht so lange allein damit«, sagte sie. »Du brauchst Gin ohne Gurke, Liebling. Und eine gehörige Umarmung von deinem alten Weib.«
Mildred hatte allein gewartet. Jetzt aber warteten sie alle zusammen. Wie viele Tage schon? Es ließ sich kaum sagen, weil die Tage ineinander übergingen. Niemand konnte viel schlafen, obwohl Ackroyd kam und ein Mittel brachte, und das Essen wurde fast unberührt abgetragen. Horatio und Andrew gingen morgens zur Arbeit und in die Büros der White Star Line, und Georgia sah ab und zu nach dem Hotel, aber ansonsten saßen sie alle beieinander im Salon und wussten nichts zu reden. Die Gäste aus dem Hotel sandten mitfühlende Briefchen herüber und äußerten tiefstes Verständnis. Es war nicht allein Mildreds Familie, die in Schock und Trauer verharrte. Es war die gesamte Küste, von der das stolze Schiff gekommen war, die gesamte Nation, die Welt.
Die in die Decke gewickelte Waffe hatte Mildred auf das Sims über dem Kamin gelegt, wo niemand auf sie achtete. Wie es aussah, würde ihr Todfeind nicht kommen. Sie musste zu ihm gehen, aber nicht jetzt, sondern später, wenn das Schlimmste bestätigt war. Ihre Selene tot. Als das Mädchen klein gewesen war, hatte es hier Klavierunterricht erhalten, doch klammheimlich hatten sie beide festgestellt, dass es so unmusikalisch war wie Mildred und all die edlen Etüden verhunzte. Und dann hatten sie sich an den kostbaren Steinway gesetzt und einen Gassenhauer darauf eingehämmert. »Ich heiße Ellie und bin die Schönheit der Allee.«
Sie würde zu ihm gehen, die Waffe auf ihn richten und es ihm sagen, ehe sie feuerte und die Kugel sein Herz zerfetzte: Du hast meine Selene getötet, der die Zukunft gehörte, mein prächtiges Mädchen, das alles wert gewesen ist. Du hast Chastity getötet, ehe ich sie bitten konnte, mir zu verzeihen, ehe ich ihr einmal sagen konnte: Ich hatte dich lieb. Du hast uns alle zerstört. Vom ersten Tag an. Und warum? Weil dein Bruder mehr Liebe von deinem Vater bekam als du – dein Bruder, der in den Wolken lebt und auf diese Vaterliebe nicht einmal Wert legte.
Man sagte, das Böse habe kein Herz, aber das war Unsinn. Mildred musste es wissen, denn sie hatte eines, das kräftig schlug. Sie war eine Intrigantin. Eine Mörderin, die ihr Liebstes auf dem Gewissen hatte. Sie und Hector Weaver nahmen sich nichts, deshalb war sie die Einzige, die ihren zartbesaiteten Haufen von ihm befreien konnte. Später, wenn sie alle einander in den Armen lagen und weinten. Sie würde es auf sich nehmen und ein Ende machen. Es hatte sein Gutes, dass es nicht hier geschah, nicht in ihrem Mount Othrys, sondern in dessen lächerlicher Kopie, und nicht vor Hyperions Augen. Die Frauen, Esther und Lydia, hatten darauf bestanden, ihn hier auf dem Tagesbett zu lagern. »Glaubst du, er wartet nicht ebenso wie wir?«, hatte Esther gefragt. »Glaubst du, er will nicht bei uns sein, wenn wir es erfahren?«
Mildred glaubte das nicht. Alles Leben, das Hyperion noch in sich hatte, saß in seinen Händen, aber
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