Die Mondrose
sie ließ den beiden ihren Willen. Etwas war gut daran, zusammen zu sein, auch wenn Mildred, die alles wusste, selbst inmitten von Menschen alleine blieb.
Die Vordertür klappte. Sie stand jetzt immer offen, für den Fall, dass irgendwer mit einer Nachricht kam. Aber es war nur Horatio, der nach der Arbeit auf dem Telegraphenamt gewesen war. Unter dem Arm trug er die Zeitungen, und in der Hand hielt er eins der braunen Telegramme, doch die Mutlosigkeit auf seinem Gesicht sprach Bände. »Noch keine Namensliste«, sagte er müde. »Das Schiff, das die Überlebenden geborgen hat, heißt Carpathia. Es hat gestern Abend New York erreicht.«
»Und wie viele sind es?«, rief Esther und sprang auf. »Wie viele Überlebende?«
Horatio senkte den Kopf. »Genaues weiß niemand. Nicht mehr als siebenhundert.«
Esther schluchzte auf. Ihr Mann wollte sie an sich ziehen, doch sie schlug sich frei, lief zum Fenster und sah hinaus in den Garten. Seit dem Morgen regnete es. Die unsägliche Lydia, die etwa zehn Jahre älter aussah, als sie sein konnte, ging zu Horatio, der selbst jetzt noch zehn Jahre jünger aussah, als er war, und rieb ihm mit der bloßen Hand einen Spritzer Motorenöl von der Wange. Sinnlos, der Frau ein Taschentuch anzubieten, sinnlos, dem Mann zu sagen, er solle sich in der Teufelsmaschine nicht zu Tode fahren. Etwas an den beiden war dennoch famos. Wäre Selene nicht gestorben, hätten sie es geschafft und sich behauptet, die Weavers. Allen Stürmen zum Trotz.
»Von wem ist das Telegramm?«, fragte Lydia.
»Von Thomas. Der Teufelskerl ist nach Liverpool gefahren, weil er von hier keine Passage bekam. Er sitzt auf der Merseyside. Ich nehme an, er erreicht heute noch New York.«
»Weiß er es?«
Horatio schüttelte den Kopf. »Habt ihr etwas gegessen?«
»Nein. Du?«
Sie sahen einander in die Augen und zuckten beide mit den Schultern.
»Ich könnte aus dem Victoriana etwas bringen lassen«, bot Andrew an, und sie ließen ihn gehen, obwohl niemand Hunger hatte und Mount Othrys vor Vorräten überquoll, um dem armen Mann etwas zu tun zu geben.
Der Abend des nächsten Tages war noch niederschmetternder. Das Büro der White Star Line hatte bestätigt, dass tausendfünfhundert Menschen bei der Katastrophe umgekommen waren, und eine erste Liste Überlebender in seine Fenster gehängt. Die Namen von Selene und Chastity waren nicht darunter. »Aber die Liste ist ja nicht vollständig«, beschwor sie Horatio. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.« Seine Stimme verriet, dass er sie aufgegeben hatte, doch am nächsten Morgen trottete er wieder aus dem Haus, ehe die Sonne aufging, um vor Arbeitsantritt vor der Tür der White Star Line auf Nachricht zu warten.
Auch an diesem Tag regnete es. Es wurde nicht richtig hell im Zimmer, und keiner von ihnen machte Licht. Irgendwann am frühen Abend begann Esther zu schreien: »Ich halte das nicht mehr aus, ich halte das verdammte Warten nicht mehr aus.«
Sie sah aus wie eine Greisin, die Augen in schwarzen Schatten, die Wangen eingefallen, das Haar zerrauft. Mein armes Kleines, dachte Mildred. Ich halte es auch nicht mehr aus. Das verdammte Warten, das verdammte Leben – wie halten wir tapferen Menschen das nur diese ewigen Jahre lang aus?
Und dann klappte die Tür. Sie alle zuckten zusammen, und Lydias Blick flog auf das Zifferblatt der Standuhr. Noch nicht sechs. Zu früh für Horatio und Andrew, und Georgia war gerade vom Hotel herübergekommen. Es musste jemand anders sein. Ein Fremder. Irgendwer, der das endlose Warten unterbrach.
Als sie den ersten Schritt hörte, wusste sie es. Lange bevor er die Tür des Zimmers aufschob und ihr sein Gesicht zeigte. Er war es. Ihr Todfeind. Der, der ihr Leben zerstört hatte. Selenes Leben. Chastitys Leben. Esthers Leben. Ehe Tränen ihre Augen blind machten, verbot sich Mildred, an weitere Leben zu denken. Sie stand auf, ohne dass jemand auf sie achtete, und nahm die Decke vom Sims. Als der Mann erschien, saß sie schon wieder auf ihrem Stuhl, der der Tür zugerichtet stand.
Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Wenn sie an ihn gedacht hatte in diesen Tagen, seit sie wusste, was er getan hatte, war sein Haar schwarz gewesen, und auch so klein hatte sie ihn nicht in Erinnerung.
»Guten Abend allerseits. Es tut mir leid, dass ich der freundlichen Einladung nicht früher nachkommen konnte.«
Seine Stimme war unverändert. Sie hatte im Ohr, wie er mit dieser Sense von Stimme »Mildred Adams aus Whitechapel« sagte. Es
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