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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Fenster. Hätte Mildred auf Hector Weaver geschossen? Gott sei Dank würden sie es nie erfahren.
    »Musst dich nicht sorgen, armes Kleines«, murmelte der Riese und strich Mildred Haar und Tränen und Schweiß vom Gesicht. »Musst dich jetzt nicht mehr sorgen. Du bist doch keine Mörderin. Heute nicht. Und damals warst du auch keine.«
    Er legte die Arme um sie, zog sie vom Stuhl zu sich, und die unbesiegbare Mildred ließ sich gegen ihn fallen. Die Melodie, die er von neuem zu summen begann, erkannte Lydia nicht, aber kurz darauf summte er ein Lied, das ihre Mutter für sie gesungen hatte.
    »Lavendel ist blau, dilly dilly,
    Lavendel ist grün.«
    Es war schön, an Lavendel zu denken, der auf den Wiesen hinter der Tudorruine bald blühen würde. Unendlich schön.
    Ein Stöhnen ließ sie alle herumfahren. Hyperion, den nicht einmal der Schuss aus seiner Starre gerissen hatte, wand sich in Krämpfen auf dem Bett. Esther sprang zu ihm und versuchte ihn festzuhalten. Der Riese stand auf, ließ aber die Hand auf Mildreds Scheitel liegen. »Wir müssen Sie um Verzeihung bitten, Dr. Weaver«, sagte er. »Was wir Ihnen angetan haben, ist furchtbar, aber wir haben es getan, weil wir jung und verzweifelt waren und keinen Ausweg wussten. Wir haben teuer dafür bezahlt.«
    »Victor«, kam es kaum hörbar von Mildred, »nicht weiter.«
    Er streichelte über ihr Haar. »Doch, mein Kleines. Jetzt muss ich weiter. Mein Annettchen hat mir gesagt, wo meine Tochter und mein Enkelkind sind, darum brauchst du dich nicht mehr zu sorgen, und das andere müssen wir auch aus der Welt schaffen. Hätten wir es früher getan, wir hätten uns so vieles erspart. Ihre Daphne hat Sie so geliebt, Dr. Weaver. Sie hat Ihnen einen Brief geschrieben und Sie gebeten, sich nicht die Schuld zu geben. Ihre Liebe, schrieb sie, war das Schönste in ihrem Leben, und dass wir Ihnen diesen Brief gestohlen haben, ist unverzeihlich. Wir haben ihn im Solent versenkt, Mildred und ich, zusammen mit den Toten. Wir wussten uns keinen Rat, wir dachten, Sie könnten mit der Wahrheit nicht leben. Daphne hat an dem Herd, den Ihr Bruder Ihnen geschenkt hat, das Gas aufgedreht und sich und den Jungen und den kleinen Hund getötet. Ich bin sicher, sie sind ganz friedlich gestorben, Dr. Weaver. Wir hätten es Ihnen sagen müssen. Für Ihre Daphne war das Leben zu hart, aber dieser Brief an Sie war voller Liebe.«
    Der alte Mann weinte. Über sein zerfurchtes Gesicht rannen Tränen, während er Mildred, die sich an sein Bein lehnte, über den Kopf strich. Esther weinte auch. So leise wie Victor. In ihren Händen hielt sie die Hände ihres Vaters, deren Finger sich in ihren öffneten, während sein Mund sich verzog, als wollte er lächeln. Hector Weaver lag auf dem Boden und weinte aufs Parkett. Bis auf das leise Weinen und den Regen, der durch die zersprungene Scheibe fiel, war lange Zeit nichts zu hören.
    Dann rief Horatio sachte ihre Namen. »Esther. Mildred.« Die beiden hoben die Köpfe. »Selene lebt. Phoebe hat sie aus einem Spital geholt, und Thomas ist auch bei ihr. Sie braucht Zeit, schreibt Phoebe, und sie kann bei ihr bleiben, solange sie will. Phoebe lebt mit einem italienischen Witwer und insgesamt sechs Kindern zusammen, es ist ein glückliches Haus, wie du es ihr gewünscht hast, Mildred. Es wird Selene guttun. Sobald sie stark genug ist, bringen Phoebe und Thomas sie uns zurück.«
    Mildred starrte ihn an. Er strich Annette über die Wange, ließ sie los und trat auf Mildred zu. Einen Schritt vor ihr ging er in die Hocke, auf Augenhöhe mit ihr. »Chastity ist tot, Mildred. Sie hat sich entschieden, mit ihrem Charles zu sterben. Sie lässt dir sagen, dass sie dich liebt. Und dass sie versteht, was du getan hast.«
    »Sie … sie verzeiht mir?«
    »Ja.« Behutsam umfasste er ihr Gelenk, schob den Stapel Telegramme in ihre Hand und streichelte sie. Dann stand er auf, nickte Victor zu und drehte sich nach der wimmernden, am Boden liegenden Gestalt um. »Komm, Vater. Ich bringe dich nach Hause. Hat irgendwer einen Schirm?«
    Die verlässliche Georgia lief, um den Schirm zu holen, während Horatio dem zitternden Alten auf die Beine half. Er musste ihn stützen, damit er überhaupt gehen konnte.
    Lydia sah zu, wie Horatio mit seinem Vater am Arm aus der Tür verschwand. Danach sah sie zu, wie Esther ihrem Vater mit ruhiger Hand die Augen schloss, und wartete, bis Georgia sich zu ihr gesetzt hatte. Erst dann ging sie durch den dunklen Korridor den beiden hinterher,

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