Die Mondrose
sie von hinten, und der Steward zog von vorn, so dass ihr nichts übrigblieb, als über die Wand ins Boot zu steigen. Geschrei und Gewimmel entstand, als Passagiere zur Seite kippten, weil andere von ihren Plätzen aufgestanden waren, dann drückte jemand Selene auf einen Sitz.
»Rettungsboot D fertig zum Fieren«, brüllte der Offizier.
Selene hatte in die Schwärze gestarrt, der sie entgegensinken würde, und nichts als die Kälte gespürt, vor der der Kork der Weste keinen Schutz bot, doch der Ruf brachte sie zu sich. »Meine Mutter!«, schrie sie. »Meine Mutter muss noch mit!«
»Selene!« Eine Stimme wie ein Lachen. Die elektrische Winde begann zu knirschen, und das Boot setzte sich in Bewegung. Sie blickte auf und entdeckte die beiden Köpfe über der Reling, dicht beieinander, ein Lächeln auf beiden Gesichtern. Wie ähnlich sie sich sahen. Und wie ähnlich sie beide ihr sahen. Sie würden nichts mehr sagen, denn alles, was es zu sagen gab, passte nicht in den schon verstrichenen Augenblick.
»Mutter!«, rief Selene und streckte die Hände aus.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. Aber dann sagte sie doch noch etwas. »Lass meine Mutter wissen, dass ich sie liebe, ja? Dass ich verstanden habe, was sie getan hat.«
Selene konnte nicht einmal nicken. An der glatten schwarzen Schiffswand, vor der sie mit ihrem Vater auf dem Gerüst gestanden hatte, glitt das Boot in die Tiefe. Als es die Oberfläche des Meeres traf, schwappte Wasser auf, und die Kälte raubte ihr den Atem. Sofort begann der Steward die Leute an den Rudern zu kommandieren. Sie mussten auf dem schnellsten Weg aus der Reichweite des sinkenden Schiffs, damit der ungeheure Sog sie nicht mit sich auf den Grund riss.
Steif blickte Selene auf. Erst jetzt sah sie, was mit dem Schiff geschah. Sein gesamter Bug hing schon im Wasser, während das Heck mit dem hinteren Mast schräg hinauf in die Nacht ragte. Noch immer, wie ein trotziger Protest gegen das Unfassliche, brannte aus den Fenstern das elektrische Licht, die Fanfare der neuen Zeit. Während das Boot zwischen Eisschollen davontrieb, wurde es trüber und trüber. Dann verlosch es, und die Nacht wurde schwarz. Kein Gefühl war mehr übrig als die Kälte.
Kapitel 58
Tage im April
M ildred saß in ihrem Lehnstuhl und wartete. Sie hatte einen Boten mit der Einladung geschickt, mehr brauchte sie nicht zu tun. Nur zu warten. Am Ende ihres Lebens geschah alles von allein.
Sie hatte sich eine Decke über die Knie gebreitet wie eine alte Frau mit schmerzenden Gliedern. Aber ihre Glieder schmerzten nicht. Sie waren so straff wie die Glieder eines jungen Mädchens. Die Decke lag über ihren Knien, um die geladene Waffe zu verbergen. Wenn sie während des Wartens aufstehen musste, nahm sie die eingewickelte Waffe mit.
Nachdem die drei – Esther, Horatio und das Weib, das er wieder aufgegabelt hatte – gegangen waren, hatte sie Georgia gebeten, ihr den Vater ins Schlafzimmer zurückzutragen. Georgia hatte zwar als heiratsfähige Tochter nichts getaugt, aber sie verfügte über Bärenkräfte, und wie gut, dass Mildred ihr mit dem Hotel trauen konnte. Dass ihrem Hotel etwas geschah, dass Pistolenschüsse zwischen liebevoll gedeckten Teetischen fielen, hätte sie nie gestattet. Das Ende musste hier stattfinden, in dem einstigen Altenteil, dessen Lärm bis nach drüben, in ihr weißes Schloss, nicht drang.
Natürlich würde es einen Skandal geben, die Polizei auf dem Grundstück und jede Menge Gerede, aber bei einer toten Täterin musste letztlich alles im Sand verlaufen. Der findige Horatio würde gewiss in der Lage sein, den aufgewirbelten Staub zu glätten, und wenn dann noch Esther mit ihrem Geld nachhalf, ginge es ihrem Hotel nach ein, zwei kargen Saisons wieder gut. Es würde noch hier stehen und den Solent überblicken, wenn das neue Jahrhundert seinen Abschied nahm – mit einer Metallplakette an der Rückseite einer Säule: Mount Othrys. Grandhotel. Gegründet von Mildred Weaver.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie in Richtung des erhabenen Gebäudes. »Wenn ich dich von der Natter befreit habe, die dir im Fleisch saß, habe ich dir alles gegeben.« Horatio würde Selene zurückholen, damit sie das Hotel übernahm. Bis dahin würde Georgia es getreulich für sie hüten. Dass Mount Othrys keinen männlichen Erben besaß, schreckte Mildred schon lange nicht mehr. Hatten nicht Frauen auf diesem Grund und Boden bewiesen, dass sie die besseren Titanen waren, die, die die Schlacht um den Götterhimmel
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