Die Mondrose
nicht verloren hätten?
Für alles würde gesorgt sein. Nur das eine blieb noch zu tun. Sie musste einen Menschen töten, wenn es hart auf hart kam, sogar zwei. Unter der Decke tastete sie nach dem Metall der Pistole. Sie würde es schaffen. Es war das Ende des Kampfes. Danach durfte sie müde sein.
Esther hatte sie gebeten, bei ihr zu bleiben, und Lydia war geblieben. Deshalb, um Esther zu helfen, war sie schließlich nach Portsmouth gekommen – auch wenn in ihr der Wunsch brodelte, mit Horatio nach Southampton zu fahren oder ihn zu überreden, die Arbeit zu schwänzen. Hinter der Tudorruine mit ihm durch langes Gras zu streifen, fern von anderen Menschen und den Problemen der Welt. Aber wie hätte sie Esther allein lassen können? »Ich bleibe«, hatte sie gesagt, »nur tu mir einen Gefallen, lass uns nicht in deinem Wintergarten sitzen.«
»Magst du ihn nicht?«
»Herrgott, Esther, er ist völlig morbide! Überall diese Sträuße von verwelkten Rosen und Fotos von längst verblichenen Leuten. Weißt du, dass du einmal das modernste Mädchen in meiner Klasse warst?«
»So ist Selene«, murmelte Esther. »Du würdest Selene lieben.«
Sie setzten sich in ein sogenanntes Damenzimmer, das Lydia kaum besser gefiel, das aber zumindest nicht bis oben hin voll Erinnerungen steckte. Den halben Tag lang sprachen sie von Selene. »Ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben soll«, sagte Esther.
»Das wundert mich nicht, denn von deinem Leben ist ja nichts übrig.«
»Du bist der Meinung, ich habe mich falsch entschieden, nicht wahr? Ich hätte Phoebe und Mildred ihrem Schicksal überlassen und nach Kanada gehen sollen. Denkst du das? Aber Mildred hat mich aufgezogen, als meine Mutter mich verlassen hatte …«
»Wenn ich mir darüber Gedanken mache, was ich hätte tun sollen, werde ich wahnsinnig«, unterbrach Lydia das Gerede, das sie schon in ihrer Jugend kaum ertragen hatte. »Gedanken mache ich mir über das, was mir zu tun bleibt – alles andere ist müßig.«
»Und was bleibt dir zu tun?« Von der Seite schien Esther sie zu prüfen. »Gehst du zu Horatio zurück?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Lydia. »Aber du meinst nicht, wir sind dafür zu alt?«
Das vor Kummer erstarrte Gesicht der Freundin wurde weich. »Aber nein, Lydia, aber nein. Es gibt so vieles, was ihr nicht mehr könnt – aber lieben könnt ihr euch noch immer, das ist nicht zu übersehen.«
»Fein«, gab Lydia zurück. »Dann bist auch du nicht zu alt, um den Rest deines Lebens in die Hand zu nehmen. Du kannst nicht mehr Medizin studieren, so wie ich keine schöne Tochter mit schwarzem Haar mehr haben kann. Aber was ist mit den Spitälern, dem Lebenswerk deines Vaters? Könntest du dich dort nicht nützlich machen, eine Stiftung gründen, damit jetzt, da er fort ist, nicht alles zerfällt?«
Das Erstaunen auf Esthers Gesicht gefiel ihr. Ehe die Freundin jedoch auf eine Antwort sann, schrillte ein ohrenbetäubender Laut durchs Haus. Dreimal zerschnitt das schreckliche Geräusch die Luft, dann verstummte es. »Zum Teufel, was war das?«
Esther, die den ganzen Tag über mutlos gewesen war, verzog den Mund zu einem Lächeln. »Das Telefon. Weißt du das wirklich nicht? Uns ruft selten jemand an, da wir kaum jemanden kennen, der eines besitzt.«
Es klopfte an der Tür, und gleich darauf erschien im Spalt der Kopf des Hausmädchens. »Mr Weaver aus Southampton«, verkündete sie. »Für Miss Burleigh.«
Tapfer lächelte Esther ihr zu. »Siehst du, nun hörst du heute zum ersten Mal ein Telefon, und es ist gleich für dich.«
Lydia folgte dem Mädchen in die Halle, wo der Apparat an der Wand hing. Sie hielt erst die falsche Muschel ans Ohr, hörte Horatios Stimme jedoch aus der richtigen ihren Namen rufen. Weshalb war man so sinnlos erleichtert, eines Menschen Stimme zu hören, selbst wenn das Schnarren und Kratzen der Leitung sie verzerrten?
»Lydia?«, sagte Horatio. Seine Stimme war nicht nur durch die Leitung verzerrt. »Bist du allein, kann Esther dich hören?«
»Nein. Was ist denn los?«
»Hör zu, lass dir vor Esther nichts anmerken, ehe Andrew zu Hause ist und ich Genaueres weiß. Es ist etwas Furchtbares passiert. Die Titanic – sie ist südöstlich von Neufundland auf offener See gesunken.«
Lydia entfuhr ein Schrei, und gleich darauf schlug sie sich auf den Mund. Das Mädchen an der Tür zum Salon drehte sich träge um. Lydia wedelte mit der freien Hand, um ihr zu bedeuten, alles sei bestens. »Chastity und Selene«,
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