Die Mondrose
prächtigen Elektrizität des Schiffs zu danken war. In dem Viereck aus Licht stand Chastity. Ihre Tante. Ihre Mutter. Das ewig flüsternde, ewig verschüchterte Geschöpf schrie sie an: »Steh auf, Selene! Steh um des Himmels willen auf!«
Sie stürmte zum Schrank, riss ihn auf und zog etwas heraus. Als sie damit vor dem Bett auftauchte, erkannte Selene die Schwimmweste mit dem Schriftzug der White Star Line. Wie von selbst glitt sie vom Bett, stolperte und bemerkte jetzt endgültig, was ihr vorhin wie eine Einbildung erschienen war – das Schiff lag nicht mehr gerade im Wasser. Das Pochen an ihren Schläfen verstärkte sich. »Was ist denn los? Ich will nur schlafen, sonst nichts.«
Chastity war bereits dabei, ihr ein Kleidungsstück und anschließend die sperrige Weste über den Kopf zu streifen. Durch den Gang dröhnten Schreie und Gepolter von Schritten. »Das Schiff hat einen Eisberg gerammt. Es sinkt«, antwortete Chastity. »Sag nichts, mein Mädchen. Die genialen Schotten, von denen du mir erzählt hast, haben perfekt funktioniert, aber das Leck ist zu groß. Mit fünf Kammern voll Wasser kann das Schiff nicht mehr schwimmen.« Über ihr Gesicht rannen Tränen, als wäre es ihr Schiff gewesen, ihr verrückter, größenwahnsinniger Traum. »Denk nicht nach, komm nur nach oben. Es sind ja schon Boote zu Wasser gelassen, und jemand hat gesagt, die Plätze reichen nicht für alle …«
Die Rettungsboote! An deren Zahl gespart worden war, um Platz zum Vergnügen zu schaffen, weil man schließlich auf einem unsinkbaren Schiff keine Rettungsboote brauchte. Selene wusste nicht, warum sie Chastity folgte. Etwas in ihr wollte in der Kabine bleiben, sich wieder ins Bett legen, von nichts mehr wissen. »Du musst doch leben!«, schrie ihre Mutter sie an. »Du musst von alledem doch übrig bleiben!« Als sie über den Gang liefen, hatten sie bereits gegen Steigung zu kämpfen, und aus einer Tür strömte ihnen eisiges Wasser entgegen.
Vor dem Ausgang zum Foyer des Bootsdecks drängten sich die Menschen so dicht, dass Selene umkehren wollte. »Es hat keinen Sinn!«, schrie sie, aber Chastity stieß sie in den Rücken, und drei Schritte weiter wartete Harry. Er streckte ihr die Hand entgegen, umfasste ihr Gelenk und zerrte sie durch die Menge. »Kommt, meine beiden«, lockte er sie. »Sie bereiten Rettungsboot C zum Fieren vor, darin gibt es für euch Platz.«
Die Nacht war glasklar und trotz aller Panik wie zu Eis erstarrt. Nie im Leben hatte Selene größere Kälte erlebt. Sie erfasste die Situation in Windeseile – es gab nicht genug Plätze für alle. Von den Passagieren der ersten Klasse war jetzt, da man die zweite hinausließ, bereits ein großer Teil verfrachtet. »Nur Frauen und Kinder!«, brüllten die Offiziere, die sich vor den Booten aufbauten. »Männer zurück, nur Frauen und Kinder in die Boote.« Mit blinkenden Pistolenläufen versuchten sie die wabernde Masse, die um ihr Leben kämpfte, zurückzudrängen. Von den Frauen und Kindern der dritten Klasse war noch niemand an Deck.
Was bedeutete es, dass ihr Zauberschiff sank? Versank ihre Zeit mit allem, an das sie geglaubt hatte? War es nicht längst versunken? Im Foyer des Bootsdecks standen die Mitglieder des Schiffsorchesters und spielten einen Walzer.
»Unausgesprochene Liebe, ungebrochene Treue,
Ein ganzes Leben hindurch.«
Selene hätte nicht weitergehen können, und vermutlich verließ auch Chastity die Kraft, aber Harry war da und zog sie durch die Menge. »Hier, meine Frau und meine Tochter«, rief er dem Offizier zu, der zuvorderst an dem auffaltbaren Rettungsboot stand. »Die beiden kommen noch mit.«
»Zurück, Mann.« Der Offizier stieß Harry seine Pistole in den Leib. »Das Boot ist voll.«
»Ist es nicht!«, rief Harry. »Dort hinten sind noch zwei Plätze, die sind für meine Familie.«
Was soll der Aufwand, dachte Selene, die einen Blick über die Reling in die bodenlose Schwärze erhaschte. Wir sterben sowieso.
»John, John!«, hörte sie Chastity rufen. »Bitte helfen Sie uns. Man will uns die Plätze im Boot nicht geben!«
Jetzt erkannte Selene, wer John war – der Steward, der vor ihnen das Boot erreicht haben musste. Er stand am Bug und wies die Passagiere an, ruhig zu sitzen und Kinder festzuhalten. Auf Chastitys Ruf hin wandte er den Kopf. »Aber ja, Mrs Weaver, ich habe Ihnen Ihre Plätze freigehalten.«
Wieder spielte sich alles im Handumdrehen und wie ohne Selenes Zutun ab. Hände wurden ihr gereicht, Harry stemmte
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