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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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musste ein Ende sein. Unter der Decke tastete sie nach dem Metall, wie sie es etliche Male geübt hatte. Er hatte die Hölle, die ihn erwartete, tausendmal verdient.
    »Ich bedanke mich vielmals«, sagte Hector Weaver und machte tänzelnd drei Schritte in den Raum. Mildred war wieder jung. Sie war neunzehn Jahre alt und versuchte sich auf der engen Stiege von Milton’s Court an ihm vorbeizuschieben, ohne dass er ihr auf den Hintern klatschte, ohne dass er die Lippen so wie jetzt verzog und bemerkte: »Wenn es Ihnen mit der Miete so schwerfällt, Miss Adams, werden Sie das Bett leider räumen müssen. Es tut mir von Herzen leid, dass Ihre Schwester krank ist – nur sehen Sie, unsereins lebt schließlich auch nicht von Luft ohne Liebe …«
    Zieh die Pistole, fuhr sie sich an. Nur ein Augenblick, dann ist alles vorbei.
    »Ich hatte selbst vor, dir in nächster Zeit einen Besuch abzustatten, beste Mildred«, sagte er. »Unser Spiel war schön, es hat mich Jahrzehnte hindurch unterhalten. Aber irgendwann hat auch das schönste Spiel ein Ende. Wir werden schließlich nicht jünger, und wir wollen ja nicht, dass einer von uns diesen holden Planeten verlässt, ehe er die Auflösung erfährt.«
    Das wollte er ihr auch noch antun! Den Kampf ihres Lebens zunichtemachen. Ihnen sagen, was sie getan hatte, ohne dass einer von ihnen den Grund begreifen würde. Die treuherzige Georgia. Lydia, die um Horatios willen in der Familie bleiben musste, und Esther, ihre arme Esther, die ihr Kind verloren hatte. Hyperion, ihr Liebster, der nicht einmal in Frieden sterben durfte. Sie musste sie schützen. Mildred zog die Pistole unter der Decke hervor, schloss ein Auge und zielte auf Hector Weavers Brust.
    »Mildred!«, schrie Lydia. »Sind Sie verrückt?«
    »Mutter, nein!«, schrien Esther und Georgia.
    Aber um auf sie zu achten, hatte Mildred keine Zeit. Ihr Mut wurde augenblicklich belohnt. Sie hatte nicht geglaubt, dass dieser Anblick ihr jemals vergönnt sein würde – Angst, die von Hector Weavers Gesicht Besitz ergriff. Nackte Angst um das erbärmliche Leben einer Ratte. Seine Rattenklauen, die in wilden Zuckungen bebten, hoben sich vor seinen Hals. »Nicht doch«, stammelte die zu einem Nichts geschrumpfte Stimme. »Nicht doch. Nicht.« Mildred gönnte sich das Bild noch einen Herzschlag lang. Und dann klappte die verdammte Tür.
    »Horatio!« Die wackere Lydia kreischte fast. »Horatio, hilf uns!«
    Horatio war ein Pfundskerl. Er hatte es verdient, mit anzusehen, wie seine Tante seinen Peiniger erschoss. Es mochte es ihm ein wenig leichter machen, den Verbliebenen mitzuteilen, dass alle Hoffnung verloren war. Hüte mir meine Schar, wenn ich es nicht mehr kann, bat sie ihn in Gedanken und wartete, bis seine Schritte durch den Korridor hallten. Dann krümmte sie den Finger um den Abzug.

    So hoch hatte Lydia sich im Leben nie schreien hören. Sie hatte auch im Leben nie einem Gott gedankt. Gott sei Dank, dass du kommst, Horatio. Gott sei endlos Dank.
    Aber das Gesicht, das in der Tür erschien und sofort schreckensbleich wurde, gehörte nicht Horatio. Es gehörte dem Mädchen. Annette Alexandrina. Neben ihr stand ein Riese von einem Mann, der schneeweißes Haar hatte und sich auf eine Krücke stützte.
    Das Mädchen schrie. Einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte Lydia, sie sei vorgesprungen und habe sich zwischen die Mündung der Waffe und Hector Weaver geworfen. Lydia hörte den Aufprall, den Schuss, der für eine Sekunde alles Hören zerschmetterte, und erst dann sich selber rufen: »Bleib stehen, Annette – nicht bewegen!«
    Schwarzer Rauch verdunkelte den Raum und kratzte in der Kehle. Durch Schwaden sah sie, wie Hector Weaver mit einem Heulen vornüberstürzte. Dahinter stand Horatios Tochter. Annette Alexandrina, Schönheit mit dunklen Augen, die Archäologin werden wollte. Unversehrt.
    Die Rauchschwaden legten sich nur langsam. Leises Summen mischte sich mit leisem Weinen. Dann wieder die Tür und Horatios Schritte im Korridor. Er wollte etwas sagen, doch das, was er sah, gebot ihm Stille. Ohne ein Wort nahm er Annette in die Arme.
    Die, die weinte, war Mildred. Und der, der summte, war der weißhaarige Riese, an den Lydia sich dunkel erinnerte. Er war der Mann von Horatios Kindermädchen, er war auf ihrer Hochzeit gewesen. Mit einem unglaublichen Satz war er zu Mildred gesprungen und hatte ihr die Pistole aus der Hand geschlagen, ehe der Schuss sich löste und die Scheibe durchschlug. Ein wenig Regen rieselte ins

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