Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
flutete das Zimmer. Dann ging sie nach unten.
Marianne ließ sich zurückfallen. Das Bett war nicht zu weich, nicht zu hart, und die Decken waren weiß und kühl. Im Liegen holte sie die Fliese aus der Handtasche. Sie stellte sie auf das weißlackierte Schränkchen neben dem Bett und blickte so auf das gemalte Kerdruc auf der Kachel, und auf das ungemalte, das wirkliche. Der Maler musste genau hier gestanden haben. Sie konnte sich kaum entscheiden, welches Kerdruc bezaubernder war. Verzaubernder.
Es war Marianne, als ob ihr ein Geschenk überreicht worden wäre. Nur wusste sie nicht, warum oder ob sie es annehmen durfte.
Der Kater drängte sich in ihre Armbeuge. Es war still in der Auberge, aber nicht diese Totenstille, die Marianne so oft zu Hause als Bedrohung empfunden hatte. Das hier war eine lebendige Stille.
Marianne dachte an die Frauen, die ihr bisher in ihrem Leben begegnet waren, und wie sie versucht hatten, ihr das Leben zu erklären. Sie hatten viel gesagt, wenn sie nicht sprachen; es war die Stille zwischen ihren Worten gewesen, die Marianne gerührt hatte.
»Ich habe ein Recht auf Liebe!«, hatten die meisten der Mütter von den Kindern im Hospizkindergarten gemeint. Klang wie »Ich habe ein Recht auf soziale Bezüge.« Von Konfliktfähigkeit redeten sie, die ein Mann haben müsste. Und danach wurden sie still.
Ich kenne die Liebe nicht, dachte Marianne. Ich weiß nicht, bis zu welchem Preis sich Liebe lohnt. Oder was Männer überhaupt von ihr halten. Von ihr und der Konfliktfähigkeit.
Konfliktfähigkeit bedeutete für Lothar, dass er sich einen Konflikt kategorisch verbeten hatte.
Marianne entdeckte eine Spinnwebe über der Spiegelkommode. Sie dachte an ihre Nachbarin Grete Köster und ihre unerfüllte Liebe zu dem Friseur in ihrem Viertel. Es waren heiße Augusttage vor zwölf Jahren, als Grete Marianne bei einem Glas Sherry, den sie sich in Gretes Keller genehmigten, gesagt hatte: »Wie bigott das Leben doch ist. Als junges Mädchen mussten wir die Beine zusammenhalten, um nicht so eine zu sein, als Ehefrau machte man sich verdächtig, wenn man zu viel Spaß hatte, und kaum wurde man vierzig, war man zu alt. Gibt es irgendein richtiges Alter für Frauen und das, was sie da unten haben? Ich will da keine Spinnweben ansetzen!«
Marianne hatte damals nichts darauf zu sagen gewusst. Das, was bei ihr zwischen den Beinen war, hatte sie sich niemals angesehen und konnte demnach auch keine Auskunft über Spinnweben geben.
Da unten war eine unerforschte Zone, die so ungenutzt war wie ihr Herz.
Marianne stand auf und ging ins Badezimmer, um eine heiße Dusche zu nehmen. Dann schlang sie sich das weiche Badetuch um den Körper, verließ das Dachgiebelzimmer und schritt barfuß über die staubigen Teppiche durch die Auberge.
Marianne zählte fünfundzwanzig Zimmer auf den drei Etagen, und in jedem waren Laken über die Möbel gelegt; über vielen Betten schwebte ein romantischer Baldachin. Die Zimmer besaßen alle einen Zugang zu dem die ganze Fassade umlaufenden Holzbalkon. Es war ein wunderschönes Hotel, wie gemacht für Liebende.
An den Toilettentüren hing ein mehrsprachiges Schild. »Wir bitten unsere Gäste, Zigaretten nicht in die Toilette zu werfen. Nasse Zigaretten können nur schwer wieder entzündet werden.«
Eine große Tür am Ende eines großen Flurs führte zum Speisesaal. Als Marianne ihn öffnete, stand sie mitten in einem Gemälde. Männer und Frauen am Strand, die einen neigten sich gegen den Wind, die anderen ließen sich von ihm treiben. Marianne drehte sich einmal um sich selbst, um das endlose Bild zu betrachten. Eine trutzige Kirche, direkt am Meer, einige Frauen schlugen Tang.
Sie war mitten in eine Zeit geschritten, in der es eine Marianne Lanz noch nicht gegeben hatte. Eine Zeit, in der ihre Großmutter noch ein Kind gewesen sein musste und noch nichts davon wusste, dass sie eines Tages einen Mann treffen würde, der seine dreifarbigen Augen an Marianne weitervererben würde. Einen Mann, dessen Name sie niemals und niemandem verraten würde. Alles, was Marianne wusste, war, dass der Vater ihres Vaters das gleiche Mal trug wie sie: drei Flammen, verbunden wie ein Feuerrad auf der Herzseite der Brust.
Als sie die Treppe wieder hinaufstieg, bemerkte sie die Tapetentür auf dem Zwischengeschoss. Als Marianne sie öffnete, blickte sie in eine dunkle Kammer. Erst langsam materialisierten sich Schatten aus der Finsternis. Kleider. Sommerkleider, Abendkleider, Kleider, die
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