Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
an. Es ist die Frau, die Schuld hat. Wenn er sie nicht liebt, wenn sie zu schwach ist, zu gehen, wenn sie ein Kind bekommt, aber keinen Ehering – wir sind das selbstschuldige Geschlecht. Lothar tötete die Liebe und das Leben, und ich habe es nicht geschafft, ihn anzuklagen! Was wolltest du mit meiner Liebe, sprich? Was wolltest du damit?!
Marianne war voll von Gefühlen und Gedanken, die ihr bis an die Lippen reichten, aber nicht darüber hinausgingen. Warum hatte sie es nie gewagt, ihrem Mann gegenüber offen zu sein? Zu verlangen: Kenne meinen Körper! Achte mein Herz!
Marianne klagte sich selbst lautstark der Feigheit an. Als sie verstummte, hörte sie nur noch das Rauschen des Meeres. Sie ging noch zwei Schritte weiter hinein; das Wasser stieg ihr nun bis zu den Oberschenkeln. Sie ging in den kühlen Schmerz tiefer hinein, bis er ihr um den Bauch spülte; salzige Wellen spritzten ihr ins Gesicht. Das Meer war wie ein lebender Organismus, die Gischt wie brodelnde Milch, Wasserpranken griffen nach Marianne.
»Schluss mit mir«, flüsterte sie.
Noch ein Schritt. Die Pranken griffen kräftiger nach ihr. Sie spürte, wie ihr Blut pulsierte, wie sie atmete, wie sich der Wind in ihrem Haar verfing und die Sonne ihre Haut wärmte. Marianne dachte an das Muschelzimmer, an den Kater zwischen ihren Waden, sie dachte an Jeanremy.
Das also sollte das letzte Heute sein, an dem sie das Meer sehen würde. Fühlen würde. Wie sie im Anblick des endlosen Horizonts eine unbekannte Grenzenlosigkeit in sich fühlte. Das letzte Mal, dass sie ihre eigene Stimme hörte.
Aber es musste sein.
Wer sagt das?
Salzige Gischt spritzte ihr ins Gesicht.
Ja, wer sagte das?
Stand ihr nicht frei, zu tun und zu lassen, was sie wollte? Sie konnte es sofort tun! Sie hatte die Macht, in jeder Stunde zu entscheiden, wann es vorbei war.
Marianne drehte sich einmal um sich selbst, um die karstige Schönheit der verschorften Küste in sich aufzusaugen.
Morgen.
Marianne wandte sich um und watete zurück ans Ufer.
Morgen.
17
Y ann Gamé sah Pascale Goichon gern zu – was wahrscheinlich daran lag, dass sie beide Künstler waren, die ihre Arbeit nie als Arbeit, sondern als Lust betrachteten. Pascales Hände hatten eine Art, Ton in Form zu bringen, die höchstens davon übertroffen wurde, wie sie ihren jardin bestellte oder wie sie kochte.
Zumindest, wenn sie sich mal an ein Rezept erinnerte.
Pascale war ein Vollblutmensch, und manchmal konnte es der Maler kaum ertragen zu sehen, wie seine alte Freundin sich vergaß. Ihr Mann Emile und Yann kannten sich seit dem Abend, als sich Emile und Pascale ineinander verliebten; vor bald fünfzig Jahren.
Yann kraulte Merline, die schneeweiße Labrador-Retriever-Hündin. Sie war die Erste gewesen, die Pascale bei sich aufgenommen hatte; Straßenhunde und -katzen bevölkerten seitdem in wachsender Zahl das Grundstück. Von seinem Platz auf der Terrasse aus sah Yann Madame Pompadour, die einer Hummel nachjagte. Die Hunde hatte Pascale nach Königsmätressen benannt; auch die Rüden. Die Katzen hießen alle wie Obst und Gemüse; in der Sonne neben ihm hatten es sich Mirabelle und petit choux, kleiner Kohlkopf, gemütlich gemacht.
»Muse? Du fragst mich, ob Emile meine Muse ist?«, wiederholte Pascale.
Es schien, als ob alle Sommersprossen unter ihrer ehemals roten, jetzt milchig weißen Haarhaube Yann auslachen wollten. »Ich arbeite mit Gefühlen.«
Ihre Skulpturen waren oft Paare, die sich zueinanderreckten, und nur manchmal hatte ihre Leidenschaft ein Ergebnis und sie umschlangen einander. Oft waren es nur wenige Millimeter, die ihre sich nach Küssen bettelnden Figuren trennten, für immer in Sehnsucht gebannt.
»Mit Emile und seinem Bein alles in Ordnung?«, fragte Yann. Es war verrückt: Emile, dieser Bär von einem Mann, dessen Gehirn sich langsam von seinem Körper scheiden ließ. Erst war es der Fuß, der angefangen hatte, zu zucken, dann das Bein. Seine gesamte linke Körperhälfte zitterte und tat, was sie wollte, wenn Emile vergaß, seine Medikamente zu nehmen.
»Mit deinen Fliesen auch alles in Ordnung«, fragte Pascale zurück.
»Ya, es ist alles so weit in Ordnung«, log Yann. Alles in Ordnung, alles wie immer, er gab Malunterricht an minderbegabte Zeichner, er besuchte zweimal die Woche Pascale und Emile, aß montags im Ar Mor, bemalte den Rest der Woche Haushaltsfliesen und wartete ansonsten darauf, dass der Sommer in den Herbst überging.
»Ordnung ist tödlich«, befand
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